Von frauenverachtenden Influencern wie Andrew Tate bis hin zu Glaubenssätzen wie "Jungs weinen nicht": Zuletzt hat die Netflix-Serie "Adolescence" wieder die schmerzhafte Frage aufgeworfen, mit welchen schädlichen Einflüssen und unrealistischen Erwartungen Jungs heutzutage aufwachsen. Die Journalistin und Autorin Anne Dittmann widmet sich in ihrem aktuellen Buch diesen toxischen Männlichkeitsmodellen und erklärt, was Eltern dagegen tun können.
Wie können Jungen in einer Gesellschaft, die von ihnen erwartet, unverwundbar zu sein, frei von problematischen Männlichkeitsmodellen aufwachsen? Und was passiert, wenn sie mit Mythen wie "Jungen weinen nicht" konfrontiert werden?
In ihrem Buch "Jungs von heute, Männer von morgen" widmet sich die Autorin Anne Dittmann diesem Thema. Im Interview spricht sie über die Auswirkungen dieser Glaubenssätze, die Rolle der immer wieder propagierten Vaterfigur und erklärt, welchen Einfluss Gendermarketing auf Kinder hat.
Darüber hinaus blickt Dittmann auf die Netflix-Hitserie "Adolescence" und ordnet ein, wie real das dort gezeichnete Szenario um Mobbing, Incel-Kulturen und Online-Radikalisierungen ist.
Frau Dittmann, Jungen sollen frei von toxischen Männlichkeitsmodellen heranwachsen, werden aber dennoch häufig mit Mythen wie "Jungen weinen nicht" konfrontiert. Welche Auswirkungen haben solche Äußerungen?
Anne Dittmann: Solche Aussagen zwingt die Jungen in ein sehr enges Korsett. Eine Äußerung wie "Jungen weinen nicht" etwa setzt voraus, dass Jungen keine Gefühle oder Traurigkeit zeigen dürfen. Sie dürfen demnach nicht zeigen, wer sie sind und was sie in bestimmten Situationen fühlen. Kinder entnehmen diesem vermeintlichen Glaubenssatz, dass ihre Umwelt sie nur auf eine bestimmte Weise erleben möchte – und die ist nicht verletzlich. Hilflos zu wirken, Schmerzen zu äußern oder unter etwas zu leiden, sollte also vermieden werden. Die Männlichkeit ist unseren Söhnen in vielen Bereichen ihres Lebens im Weg und schadet ihnen mit Blick auf ihre Gesundheit, Vertrauen oder das Empfinden von Freude. Das belegen auch verschiedene Studien.
"Unterdrücken Männer Gefühle, sind dominant und zeigen sich eher aggressiv, verleiht die Gesellschaft ihnen Privilegien."
Auf der anderen Seite leben wir aber in einer Gesellschaft, die von Jungen und Männern erwartet, unverwundbar zu sein und weniger Gefühle zu zeigen. Unterdrücken Männer also Gefühle, sind dominant und zeigen sich eher aggressiv, verleiht die Gesellschaft ihnen Privilegien und hört ihnen zu. Durch diese Privilegien mögen sie einerseits profitieren, auf der anderen Seite leiden sie aber auch darunter. Die Resilienzforschung zeigt: Kinder mit geschlechtsuntypischen Kompetenzen – damit sind etwa Jungen gemeint, die gut zuhören, um Hilfe bitten oder malen beziehungsweise einen Stift führen können – sind resilienter, gesünder, besser in der Schule.
Welche Rolle spielen die Eltern, die ja möglicherweise selbst so sozialisiert wurden, dass Jungen unverwundbar und laut sein müssen, während Mädchen zurückhaltend und ruhig sein sollen?
Studien zufolge lässt die heutige Elterngeneration immer mehr Gefühle bei ihren Kindern zu und strebt eine bedürfnisorientierte Erziehung an. Insofern blicken wir diesbezüglich auf eine positive Entwicklung. Ich empfehle Eltern, sich mit Blick auf ihre Erziehung verschiedene Fragen zu stellen, um sich und ihre Prägung möglicherweise selbst zu entlarven. Ich denke da etwa an die Frage "Würde ich genauso reagieren, wenn mein Sohn ein Mädchen wäre?". Diese Frage können Eltern sich etwa stellen, wenn sie ihrem Sohn nicht das pinke, sondern das blaue Shirt kaufen wollen.
Womit wir beim Gendermarketing wären …
So ist es. Gendermarketing ist in erster Linie kapitalistisch: Unternehmen wollen nicht, dass das rosa Fahrrad der älteren Schwester an den jüngeren Bruder weitergegeben wird, sondern ein neues Rad mit "Paw Patrol"-Illustrationen gekauft wird. Es geht also zunächst einmal um Geld. Dennoch gibt es Studien, die herausgefunden haben, dass Gendermarketing durchaus Einfluss auf die Kinder hat. Auf Brotdosen, Trinkflaschen oder Schulranzen finden sich immer wieder dieselben Identifikationsangebote für Jungen und Mädchen. Mit Blick auf Jungen denke ich da etwa an "Batman", "Spider-Man" oder "Lightning McQueen". Das Auto "Lightning McQueen" steht für Schnelligkeit und Wettbewerb, während ein Superheld wie "Batman" für Stärke und Unbesiegbarkeit steht. Mir fehlt an dieser Stelle die Identifikationsfigur, die sich mit Gefühlen beschäftigt, zum Innehalten motiviert, sich um andere kümmert oder die Natur genießt.
Welche Rolle spielen Vorbilder in diesem Zusammenhang? Brauchen Jungen immer die propagierte Vaterfigur?
Ich bin sehr müde von dem Glaubenssatz, dass wir unbedingt männliche Vorbilder bräuchten für moderne Jungen. Weibliche Vorbilder sind genauso gut, weil es schlussendlich nicht auf das Geschlecht ankommt. Ich glaube nicht, dass ich als Mutter kein Vorbild für meinen Sohn sein kann, im Gegenteil. Ich habe mich als Mutter immer mit meinem Sohn und seinen Bedürfnissen identifiziert und auch mein zehn Jahre alter Sohn empfindet mich als Vorbild, wie er mir einmal bestätigt hat.
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Trotzdem muss man sich die Frage stellen, warum wir glauben, dass Mütter kein Vorbild für ihre Söhne sein können. Denn dieser Irrglaube bindet uns gewissermaßen die Hände und versetzt uns zurück in die 1950er-Jahre. Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass der Ruf nach männlichen Vorbildern frühen Theorien der Psychoanalyse entspringt – die allerdings nie bestätigt werden konnten.
Was passiert mit den modern erzogenen Jungen, den Männern von morgen? Laufen sie Gefahr, dennoch irgendwie als Außenseiter dazustehen, weil sie sich möglicherweise anders als andere Kinder verhalten?
Das ist eine interessante Frage, die sich meiner Meinung nach nicht ganz einfach beantworten lässt. Denn hier spielen verschiedene Faktoren, wie etwa das soziale Milieu, eine Rolle. Mein Sohn berichtete mir beispielsweise kürzlich von einer Party im Schulklassenverband, auf der der Song "Sigma Boy" gespielt wurde. Die meisten Kinder hätten daraufhin aufgehört zu tanzen. Auf meine Frage, warum sie das getan hätten, antwortete mir mein Sohn, dass der Song sexistisch sei. Dieser Moment hat mir gezeigt, wie viel Grundschüler schon wissen. Das meine ich damit, wenn ich sage, das Milieu spiele eine Rolle.
Über "Sigma Boy"
- Dem Lied von Betsy und Masha Yankovskaya wird von unterschiedlicher Seite vorgeworfen, einerseits russische Propaganda und andererseits durch den Bezug auf den sogenannten Sigma-Mann (eine Bezeichnung für erfolgreiche Männer, die oft in den sozialen Medien verwendet wird) eine maskulinistische und sexistische Grundhaltung zu transportieren.
Ob ein fürsorglicher Junge automatisch zum Außenseiter wird, weiß ich also nicht. Es muss auch unterschieden werden, ob ein Junge sich in sogenannten peer groups oder echten Freundschaften bewegt. Vielleicht ist es dem Jungen egal, in der peer group nicht allzu beliebt zu sein, weil er im Freundeskreis drei wirklich tiefe Freundschaften pflegt. Jungen wiederum, die zu Mobbern werden, mögen innerhalb einer Clique vielleicht als cool wahrgenommen werden, empfinden im schulischen Kontext aber häufig wenig Selbstwertgefühl. Entsprechend fühlen sie sich als Loser und machen andere nieder. Insofern könnte man jene Jungen, die stark an der Männlichkeitsnorm orientiert sind, auch als Außenseiter betrachten.
Wie blicken Sie als Mutter und als Autorin des Buches "Jungs von heute, Männer von morgen" auf die erfolgreiche Netflix-Serie "Adolescence"? Die Serie widmet sich unter anderem toxischen Männlichkeitsmodellen.
Die Aussage der Serie ist nicht, dass wir unseren Söhnen das Handy und den Internetzugang wegnehmen sollen. Wir sehen an der Serie, wie der ermittelnde Polizist nach dem Mord an einer Schülerin durch einen 13-Jährigen den Kontakt zu seinem Sohn, der ebenfalls Schüler an der Schule ist, sucht. Ebenso sehen wir, dass der Polizist erkennt, wie viel Gewalt an der Schule seines Kindes herrscht und wie desinteressiert und überfordert das Lehrpersonal ist. Die Serie zeigt auf hochdramatische Weise, dass die Jugendlichen niemanden haben, der sie auffängt. Denn sie behandelt die Frage, was passiert, wenn es uns nicht gelingt, die Perspektive Jugendlicher zu sehen und sie zu erreichen.
Die Serie thematisiert Mobbing, Incel-Kultur, Online-Radikalisierung und ein versagendes Schulsystem – wie real ist "Adolescence"?
Eine englische Studie hat belegt, dass Online-Radikalisierung und das Vokabular der Alpha-Male-Bewegung auch offline auf den Schulhöfen ankommen. Diese Entwicklung zeigt, dass Dinge, die online passieren, nicht online bleiben, sondern sich in die echte Welt verschieben. Das deckt sich mit Beobachtungen, dass jemand wie Andrew Tate etwa bei männlichen Jugendlichen und Vätern immer populärer wird. Wir leben in einer Welt, die immer komplexer wird – Männer wie Andrew Tate bieten einfache Lösungen an, indem unterkomplexe Narrative weitergegeben werden.
Wer ist Andrew Tate?
- Andrew Tate ist ein ehemaliger Kickboxer, der mittlerweile als Influencer mit frauenverachtenden Inhalten Millionen Follower erreicht - vor allem junge Männer. Derzeit (Stand: 30. Mai 2025) ermittelt die britische Justiz gegen Tate und seinen Bruder Tristan unter anderem wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und des Menschenhandels. Die mutmaßlichen Taten sollen zwischen 2012 und 2015 in England begangen worden sein.
Letztlich erreichen diese Narrative aber junge Menschen – eben, weil sie sich einfache Lösungen für schwierige Herausforderungen wünschen und entsprechend empfänglich sind. Umso wichtiger ist es meiner Meinung nach, dass Eltern früh beginnen, mit ihren Kindern über Probleme und Sorgen zu sprechen.
"Unsere Kinder brauchen Erwachsene um sich herum, die für sie da sind, ihnen Sicherheit bieten und ihnen zuhören. Erwachsene, die ihnen jeden Tag wenigstens einmal ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken."
Äußert sich ein Komiker in einem Podcast beispielsweise ableistisch (also abwertend gegenüber behinderten Menschen; Anm.d.Red.), nehme ich meinen Sohn mit in das Gespräch und wir überlegen zusammen, wie problematisch und behindertenfeindlich solche Äußerungen sind – Kinder haben oft noch einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. In der Folge schauen wir dann zusammen die Paralympics und mein Kind sieht mit eigenen Augen, welche außergewöhnlichen Leistungen auch Menschen mit Behinderung erbringen können. Indem wir also sehr früh mit unseren Kindern über gewisse Dinge sprechen, sensibilisieren wir sie auch für die Dynamiken in unserer Gesellschaft und für die Kultur, in der wir leben.
Welches Learning sollten Erwachsene also aus "Adolescence" mitnehmen?
Ganz klar: Unsere Kinder brauchen Erwachsene um sich herum, die – gerade in Übergangsphasen wie der Pubertät – für sie da sind, ihnen Sicherheit bieten und ihnen zuhören. Erwachsene, die ihnen jeden Tag wenigstens einmal ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Um mit ihnen über ihr Erleben, ihre Gefühlswelt und über die Narrative zu sprechen, mit denen sie in der Schule und im Internet konfrontiert werden.
Über die Gesprächspartnerin
- Anne Dittmann ist eine deutsche Journalistin, Autorin und Speakerin. Als Journalistin schreibt sie über familienpolitische Themen, u.a. für "Zeit Online", die "Süddeutsche Zeitung" und "Brigitte". Insbesondere auf Instagram hat sie eine starke Community rund um das Thema allein- und getrennt erziehende Mütter aufgebaut. Sie lebt mit ihrem Kind in Berlin.