Ja, der Hormonhaushalt einer Frau beeinflusst bei einer Schwangerschaft maßgeblich das Gehirn. Nein, dieser Umstand allein sorgt nicht dafür, dass die Frau eine "gute Mutter" ist. Denn die Idee vom angeborenen Mutterinstinkt ist ein Mythos, wie auch Autorin Annika Rösler im Interview erklärt.
Während der Schwangerschaft sorgen die Hormone Östrogen und Progesteron für Umbauprozesse und neuronale Neuverdrahtungen im Gehirn der Frau. Doch die Entwicklung zur Mutter ist ein über die Schwangerschaft hinaus andauernder Prozess. Dieser findet auf mehreren Ebenen statt: körperlich, emotional, sozial. Die Veränderungen im Gehirn von Müttern lassen sich, wie Studien zeigen, sogar im MRT nachweisen.
Einen umfassenden Blick auf das Thema Mutterschaft, die neuralen Veränderungen und das Phänomen der sogenannten Muttertät wirft Autorin Annika Rösler in ihrem Buch "Mythos Mutterinstinkt". Die dreifache Mutter erklärt darin: Auch Väter oder andere enge Bezugspersonen können das von der Forschung untersuchte "Hirn-Upgrade" erfahren.
Frau Rösler, was sagt einem vorher niemand über das Muttersein?
Annika Rösler: Dass Muttersein keine angeborene Fähigkeit ist und auch keine Superkraft. Wir müssen uns alle in unsere Elternschaft reinlieben. Und das passiert bei jeder Frau auf ganz individuelle Art und Weise. Mutterschaft darf die Erfüllung darstellen, muss sie aber nicht. Beides darf sein. Generell ist Mutterliebe gesellschaftlich mit so vielen Verbindlichkeiten aufgeladen, derer ich mir im Vorfeld nicht annähernd bewusst war.
Was waren für Sie die größten Überraschungen?
Mein größtes Learning: Ein einziges Lächeln des Babys entschädigt definitiv keine schlaflosen Nächte. Was mich am meisten überrascht hat, waren meine eigenen Gefühle. Ich wusste, dass Elternschaft herausfordernd und kräftezehrend ist. Oder zumindest hatte ich eine leise Ahnung davon. Wie stark ich allerdings als Mutter fühlen würde, war mir nicht bewusst. Und zwar in alle Richtungen. Als ich vor gut 13 Jahren zum ersten Mal Mutter wurde, war ich zum einen unfassbar glücklich, aber ich war auch so ziemlich alles andere. Verzweifelt, gelangweilt, besorgt, wütend – Kinder bedienen ja die komplette Klaviatur unserer Emotionen. Über all diese negativen Gefühle war ich mir nicht ansatzweise im Klaren. Auch nicht, wie ratlos ich oft sein würde.
"Wir werden nicht als Mütter geboren, sondern wachsen Schritt für Schritt in diese Rolle hinein. Dieses langsame Hineinwachsen ist aber nicht nur subjektiv spürbar, sondern inzwischen auch neurobiologisch messbar."
Können Sie kurz den Begriff Muttertät, der auch in Ihrem Buch im Fokus steht, erklären?
Muttertät – auch Matreszenz genannt – beschreibt die tiefgreifenden körperlichen, psychischen und neurologischen Veränderungen, die eine Frau durchläuft, wenn sie Mutter wird. Wir werden nicht als Mütter geboren, sondern wachsen Schritt für Schritt in diese Rolle hinein. Dieses langsame Hineinwachsen ist aber nicht nur subjektiv spürbar, sondern inzwischen auch neurobiologisch messbar. Dass Muttertät sprachlich an Pubertät erinnert, und Matreszenz an Adoleszenz, ist kein Zufall. Denn tatsächlich passiert im Gehirn einer werdenden Mutter Ähnliches wie bei Jugendlichen: Synapsen werden neu verknüpft, während nicht mehr genutzte Verbindungen reduziert werden. Man kann es sich wie eine Art Finetuning vorstellen. Ein intensives Lernprogramm, vergleichbar mit einem Trainingslager. Zugegeben, mitunter ein ziemlich hartes Trainingslager.
Kurz erklärt: Was ist Matreszenz?
- Der Begriff "Matreszenz", der sich am besten mit "Muttertät" übersetzen lässt, wurde von der Anthropologin Dana Raphael 1973 geprägt und beschreibt den Wandel der Persönlichkeit und die Identitätsfindung während der Schwangerschaft bis weit nach der Geburt des Kindes.
In Ihrem Buch "Mythos Mutterinstinkt" zeigen Sie auf, dass es diesen angeborenen Mutterinstinkt eigentlich gar nicht gibt – warum ist das so?
Zum einen wissen wir dank moderner Hirnforschung, dass das Mutterwerden eine Entwicklung einer neuen Identität ist, die in der Schwangerschaft in Bewegung gesetzt wird und längst nicht mit dem Abnabeln des Säuglings abgeschlossen ist. Forschende gehen derzeit davon aus, dass die Muttertät viele Jahre anhält. Und sie läuft bei jeder Frau anders ab. Tatsächlich lassen sich im Gehirn bereits während der Schwangerschaft Veränderungen beobachten, die Hinweise darauf geben, ob der Frau die Mutterschaft und die Bindung zum Kind eher leicht- oder schwerfallen wird. Das ist wirklich faszinierend und widerspricht dem Narrativ eines unumstößlichen Mutterinstinkts.
Die Wissenschaft setzt das ursprüngliche Verständnis des Phänomens Mutterinstinkt also außer Kraft?
Die Idee vom Mutterinstinkt ist letztlich ein Mythos. Eine Geschichte, die uns seit Jahrhunderten von Männern erzählt wird. Im Buch beschreibe ich im Kapitel "HIStory", wer den Mutterinstinkt erfunden hat. Und wem es nützt, wenn wir an ihn glauben. Spannend ist auch ein weiterer Punkt: Neuere Studien zeigen, dass diese tiefgreifenden Veränderungen im Gehirn nicht an ein Geschlecht gebunden sind. Auch Väter, Adoptiveltern oder queere Elternteile erfahren dieses "Hirn-Upgrade" – vorausgesetzt, sie entscheiden sich, viel Zeit mit dem Kind zu verbringen und für es da zu sein.
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Was bedeutet das aus Ihrer Sicht?
Das bedeutet eine enorme Entlastung aller Mütter und eine echte Chance für Väter, für Adoptiv-, Regenbogen- oder Bonuseltern. Die Hirnforschung zeigt: Elternschaft ist kein angeborener Instinkt, sondern ein Prozess. Es ist ein Learning by Doing und nicht an ein Geschlecht gebunden, denn Kinder brauchen schlichtweg verlässliche Bezugspersonen. Niemand ist von Natur aus besser in der Fürsorge. Es ist schlichtweg eine Entscheidung.
An Mütter werden – nicht nur, aber vor allem auch gesellschaftlich – hohe Erwartungen gestellt. Was oder welche Veränderungen würden Sie sich für Mütter wünschen?
Mit dem Wissen um die erlernte Elternschaft sollten wir nicht nur die Verantwortung in Familien gerechter verteilen, sondern auch endlich milder mit Müttern sein. Sie dürfen Fehler machen und daraus lernen. Sie dürfen ratlos sein, überfordert und wütend. Sie sind keine Superheldinnen, sondern Menschen. Mütter müssen nicht mit dem zweiten Strich auf dem Schwangerschaftstest oder spätestens mit dem Abnabeln des Säuglings bedingungslos lieben. Sie dürfen sich Zeit nehmen, um anzukommen in ihrer neuen Rolle. Sie müssen nicht die Hauptbezugsperson sein. Elternschaft verändert auf so vielen Ebenen – und zwar alle Eltern.
Wie blicken Sie auf den Muttertag?
Tatsächlich habe ich beim Muttertag ambivalente Gefühle. Ursprünglich wurde er 1933 von den Nationalsozialisten als Teil ihrer ideologischen Propaganda zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Hinter der gesellschaftlichen Idealisierung von Müttern stand letztlich jedoch nur ein Ziel: die Geburtenrate zu steigern. Mit dem sogenannten Mutterkreuz in Bronze, Silber oder Gold wurden Frauen geehrt, die viele Kinder, also potenzielle Soldaten, gebaren.
Doch auch jenseits der Historie bleibt ein bitterer Beigeschmack: Dass die unbezahlte Care-Arbeit der Frauen an 364 Tagen im Jahr unsichtbar bleibt und an einem einzigen Tag symbolisch gewürdigt wird, ist schlicht nicht genug. Und gleichzeitig freue ich mich ehrlich, wenn meine Kinder mir voller Stolz ihre Basteleien überreichen. Mal wieder eine Gleichzeitigkeit in der Elternschaft.
Und ganz persönlich im Kleinen: Wenn es etwas gibt – was wünschen Sie sich zum Muttertag?
Ganz ehrlich? Schlaf! Viel Schlaf, leckeres Essen, Zeit allein oder mit anderen Frauen. Ach ja – Blumen wären tatsächlich schön. Aber bitte bereits in einer Vase arrangiert und dass sie, wenn sie verblüht sind, ohne mein Zutun wieder verschwinden.
Über die Gesprächspartnerin
- Annika Rösler ist Buchautorin, Texterin und Mutter von drei Kindern. Ihr Anliegen ist es, ein authentisches Bild von Elternschaft zu zeichnen. Als Speakerin auf Events spricht sie über den "Mythos Mutterinstinkt" und die elterlichen Wachstumsschmerzen, über bindungsorientierte Fürsorge und Vielfalt in der Familie.
Verwendete Quellen
- Schriftliches Interview mit Annika Rösler
- APA PsychNet: The plasticity of human maternal brain: Longitudinal changes in brain anatomy during the early postpartum period.
- Science: Hormone-mediated neural remodeling orchestrates parenting onset during pregnancy