15.000 abgelaufene vegane Schnitzel verteilen: Klingt nach einem Gesundheitsrisiko, sei aber komplett ungefährlich, versichert Raphael Fellmer. Warum er und seine Community den ungewöhnlichen Weltrekord aufstellen wollen, erklärt der Lebensmittelretter im Utopia-Interview.

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Am kommenden Dienstag, dem 19. August, findet in der Berliner Malzfabrik ein außergewöhnliches Event statt: Raphael Fellmer, Aktivist und Mitgründer des Lebensmittelrettungs-Unternehmens Sirplus, will zusammen mit engagierten Mitstreiter:innen – unter anderem der Influencerin Bianca "Bibi" Heinecke – einen Weltrekord aufstellen. 15.000 vegane Schnitzel und insgesamt über 100.000 Lebensmittel, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) längst überschritten haben, sollen kostenlos verteilt werden.

Im Gespräch mit Utopia.de erklärt Fellmer, was das Ziel dieser Aktion ist, wie er persönlich zum Lebensmittelretter wurde und warum das Mindesthaltbarkeitsdatum oft missverstanden wird. Auch auf die Frage, wieso die veganen Schnitzel genießbar sein werden, obwohl sie laut MHD schon seit einem Jahr "drüber" sind, hat er eine Antwort.

Ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung

Utopia: Am 19. August möchtest du mit 15.000 veganen Schnitzeln einen Weltrekord aufstellen. Wie kommt man auf eine solche Idee?

Raphael Fellmer: Die Lebensmittelmarke Veganz hat uns kontaktiert, weil sie viele vegane Schnitzel hatte, die wegen Produktionsstopp und abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht mehr verkäuflich sind. Wir retten diese Schnitzel gemeinsam mit unserer Community. Wir bereiten sie vor Ort zu, geben sie an NGOs, Privatpersonen und Vereine weiter – und setzen so ein deutliches Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung.

Denn pro Minute wird in Deutschland eine LKW-Ladung Lebensmittel verschwendet – davon etwa die Hälfte zu Hause, der Rest entlang der Wertschöpfungskette. Es geht darum, zu zeigen, dass es immer Lösungen gibt, noch genießbare Lebensmittel, auch wenn sie bereits abgelaufen sind, in den Kreislauf zu bringen, anstatt sie zu verschwenden.

Und worin genau besteht der Weltrekord?

Wir wollen die meisten veganen Schnitzel in kürzester Zeit retten. Das ist aber nur die Spitze vom Eisberg, denn wir retten an dem Tag ja noch viel mehr Lebensmittel als nur die Schnitzel, insgesamt über 100.000. Das Ziel ist es, maximale Aufmerksamkeit und Bewusstsein für echte Lebensmittelwertschätzung zu schaffen. Da wir alle Teil des Problems sind und über 200 Euro pro Kopf pro Jahr an Lebensmittel verschwenden, können wir auch alle Teil der Lösung sein.

Die Schnitzel sind deutlich abgelaufen – wie könnt ihr garantieren, dass sie trotzdem sicher zum Verzehr sind?

Da es sich um tiefgekühlte Schnitzel handelt, ist das unbedenklich. Aber weil sie laut Mindesthaltbarkeitsdatum teilweise schon ein Jahr abgelaufen sind, machen wir Laboranalysen. Die bisherigen Tests waren einwandfrei, trotzdem prüfen wir alle Chargen, damit alle ein sicheres Event haben. Wir wollen zeigen: Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Wegwerfdatum, denn es heißt ja "mindestens haltbar bis” und nicht "sofort tödlich ab”.

Leider kennen viele Menschen den Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum nicht und werfen aus Angst Lebensmittel weg, die eigentlich noch genießbar wären. Das Verbrauchsdatum, was eine harte Deadline ist, gibt es nur auf ganz wenigen sehr sensiblen Lebensmittel wie zum Beispiel bei Hackfleisch, rohem Fisch und Eierspeisen.

Verbrauchsdatum: Unterschied zu Mindesthaltbarkeitsdatum und was du beachten solltest

Zero Waste for Zero Hunger

Du engagierst dich seit Jahren für die Rettung von Lebensmitteln. Woher kommt deine Motivation?

Als ich sieben Jahre alt war, habe ich gehört, dass es Menschen gibt, die hungern und viele auch daran sterben. Leider sterben auch heute noch jährlich Millionen Kinder an Unterernährung. Ich war entsetzt, traurig und wusste, ich hatte meine Vision gefunden.

Diese Erkenntnis hattest du schon mit sieben Jahren?

Ja. Später, während meines Studiums der European Studies in Den Haag, habe ich vom Containern erfahren. Da merkte ich, wie absurd es ist, genießbare Lebensmittel wegzuwerfen.

Ab 2009 wusste ich: Meine Mission ist "Zero Waste for Zero Hunger" (auf Deutsch: "Null Verschwendung für Null Hunger"). Weil etwa die Hälfte der Verschwendung zu Hause passiert, können wir alle Teil der Lösung werden, nicht nur Politik oder Wirtschaft. Mit dem, was wir global an Lebensmitteln verschwenden, könnten wir alle 673 Millionen Hungernden mindestens dreimal ernähren.

Die globalen Folgen der Lebensmittelverschwendung

Wie hängt die Lebensmittelrettungs-Aktion in Berlin konkret mit dem globalen Hunger zusammen?

Lebensmittelverluste und -verschwendung verursachen etwa 10 Prozent aller Treibhausgase – das verschärft den Klimawandel, unter dem vor allem der globale Süden leidet. Außerdem verbrauchen viele Produkte Unmengen an Wasser in den Herkunftsländern.

Wir sollten das, was wir von anderen Regionen der Welt importiert haben, mehr wertschätzen, achtsamer sein. Umso weniger Lebensmittel wir in der EU verschwenden, desto weniger Ressourcen werden abgeschöpft aus Ländern, in denen Menschen hungern.

Die Lösung scheint so simpel: einfach weniger wegwerfen. Warum sind wir noch so weit davon entfernt?

Das Problem ist vielschichtig: kulturelle Konditionierungen, mangelnde Bildung, keine Steueranreize und fehlende Transparenz. Wer das Wegwerfen von Lebensmitteln als normal lernt, ändert sein Verhalten selten von allein. Bildung ist zentral – zum Beispiel zu wissen, was Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum überhaupt bedeuten. Aber auch Transparenz in der Lebensmittelindustrie, steuerliche Anreize fürs Retten und mehr Wertschätzung könnten viel bewegen..

Welche steuerlichen Anreize wünscht du dir?

Man könnte zum Beispiel sagen: Lebensmittel mit einem abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum, die sollten mit null Prozent Mehrwertsteuer verkauft werden. Und Obst und Gemüse, das Klasse B oder C ist, wird ja oft nicht mal geerntet, weil es sich wirtschaftlich für die Landwirte nicht rechnet. Dabei schmeckt es trotz nicht perfekter Form, Farbe oder Größe genauso gut. Da sollten wir vom Steuersatz auch auf null gehen.

Und was erhoffst du dir von mehr Transparenz in der Lebensmittelindustrie?

Am besten wäre es, wenn es ein Transparenzregister gäbe für alle größeren Betriebe, wo man sehen kann, welcher Betrieb wie viel wegschmeißt und mit welchen anderen Unternehmen er zusammenarbeitet. Durch so ein Register würden vielleicht auch Journalist:innen genauer hinsehen. Eine Supermarktkette, die deutlich mehr verschwendet als andere, stünde in der Kritik, und vielleicht würde sogar ein Wettbewerb darüber entstehen, wer die Verschwendung am niedrigsten hält.

Missverständnis Mindesthaltbarkeit

Du hast das Mindesthaltbarkeitsdatum eingangs kritisiert. Sollte es abgeschafft werden?

Komplett abschaffen wird nicht funktionieren, denn es regelt, wer wann für die Qualität des Produkts verantwortlich ist. Aber wir brauchen mehr Transparenz. Gut wäre ein zweites Datum, das auf Langzeitstudien zur tatsächlichen Haltbarkeit basiert – zumindest bei den besonders oft verkauften Produkten wäre ein solcher Aufwand gerechtfertigt. Aber auch QR-Codes auf Lebensmitteln, über die Konsument:innen Erfahrungen teilen können, wären hilfreich. Wir wollen eine MHD-Check-App entwickeln, die auf diesem crowd-basierten Ansatz funktioniert. Denn viele Produzenten und der Handel haben kein Interesse daran, dass jedes verkaufte Produkt gegessen wird. Für die bedeutet Verschwendung mehr Gewinn, denn alles, was wir Zuhause entsorgen, wurde trotzdem gekauft.

Welche Lebensmittel halten deiner Erfahrung nach oft viel länger als angegeben?

Reis, Nudeln, Honig, Salz, Dosen – diese Sachen sind oft jahrelang nach Ablauf des MHDs noch völlig okay. Bei Nüssen kann es anders aussehen, wegen Ranzigkeit. Bei Joghurt hat eine Greenpeace-Studie ergeben, dass er über acht Monate nach Ablauf des MHDs genießbar war. Solange beim Öffnen das bekannte ‚Plopp‘ kommt, ist das Produkt in der Regel noch bestens genießbar. Das gilt übrigens auch für Marmeladen und Ähnliches.

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Events als Türöffner zum Bewusstseinswandel

Was glaubst du, motiviert Menschen am meisten, ihr Verhalten zu ändern?

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Das Vorleben und der persönliche Kontakt! Wer bei solchen Events etwas mitnimmt, darüber spricht und andere einlädt, beeinflusst sein Umfeld am stärksten. Außerdem braucht es viele Touchpoints, also einen immer wiederkehrenden Kontakt mit dem Thema, damit aus Bewusstseinswandel dann auch irgendwann ein Handeln wird. Es ist ein bisschen so wie beim Zähneputzen: auch wenn wir es uns leisten könnten, den Wasserhahn laufen zu lassen, stellen wir ihn ab. Und genau die gleiche Einstellung braucht es bei Lebensmitteln auch.

Einen Touchpoint bietet das kommende Weltrekord-Event auf jeden Fall. Doch was muss passieren, damit die Veranstaltung auch danach noch nachhaltig wirkt?

Zunächst sollten Medien darüber berichten. Wir wollen so viele Millionen Menschen wie möglich mit diesem Event abholen, auch wenn sie nicht dabei waren. Das Thema, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum kein Wegwerfdatum ist, soll wieder ins Bewusstsein der Menschen kommen. Das Erlebnis "Wow! Ein veganes Schnitzel, das ein Jahr abgelaufen ist, kann man noch essen!" soll in den Alltag der Leute hineinwirken, sodass achtsamer mit Lebensmitteln umgegangen wird. Die Menschen sollen wieder mehr auf Ihre Sinne vertrauen: sehen, riechen und schmecken, anstatt nur das MHD zu checken.

Idealerweise helfen sie dann sogar mit zu retten, bei Foodsharing, Sirplus oder auch, indem sie wegen kurzen MHDs rabattierte Ware im Supermarkt kaufen, zum Beispiel die Lidl-Rettertüte.

Wenn du im Jahr 2050 auf deinen Einsatz gegen Lebensmittelverschwendung zurückblickst – woran würdest du erkennen, dass er erfolgreich war?

Wenn alle Menschen genügend zu essen haben. Ich bin realistischer Utopist und glaube daran, auch wenn wir noch ganz schöne Herausforderungen vor uns haben. Was mich bei all den Krisen positiv stimmt: Es gibt heute mehr Menschen, die sich freiwillig pflanzlich oder vegetarisch ernähren, als je zuvor. Es gibt mehr, die Zugang zu Bildung haben, und obwohl Millionen Menschen jedes Jahr verhungern, gab es noch nie so viele, die sich vollwertig und gesund ernähren können wie heute.

Ich bin überzeugt: Das Gros der Menschheit hat ein gutes Herz, das habe ich auf meiner Reise ohne Geld durch viele Länder gelernt. Deshalb sehe ich viel Potenzial, dass wir das Ziel Zero Hunger schaffen.

Wer jetzt Hunger auf veganes Schnitzel bekommen hat, kann am 19. August in Berlin die Malzfabrik aufsuchen. Weitere Informationen zum Weltrekord-Event auf der Sirplus-Website.

Lebensmittelverschwendung: Mit diesen 10 Tipps landet bei dir weniger Essen im Müll  © UTOPIA