Frauen reden viel, Männer können nicht zuhören und Einzelkinder sind egoistisch. Keiner will sie, aber jeder hat sie: Vorurteile gehören zu unserem menschlichen Naturell. Wir denken in Schubladen und haben Kategorien für bestimmte Gruppen. Aber wie entstehen diese Vorurteile und warum lassen wir uns davon so leicht leiten?

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Schublade auf, gesellschaftliche Gruppe rein, Schublade zu – jeder Mensch kennt und hat Vorurteile. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.

Ulrich Wagner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg, erklärt, woran das liegt: "Stereotype Vorstellungen vereinfachen unsere Sicht auf die Welt. Wenn ich Menschen einer Berufsgruppe, ethnischen Herkunft oder eines Geschlechts mit bestimmten Einstellungen verknüpfe, erleichtert das meinen Alltag."

Ohne Kategorisierungen fällt es uns schwerer, miteinander umzugehen und zurechtzukommen. Stereotype Vorstellungen sind also eine Art Orientierungshilfe.

"Diese im Laufe der Erziehung gelernten Kategorien sind jedoch überwiegend nicht neutral, sondern schließen Wertungen ein, die sich auf die kategorisierten Objekte übertragen", heißt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Was wie eine Vereinfachung aussieht, ist also gleichzeitig unter Umständen auch eine Ungerechtigkeit und ein negatives Vorurteil. Wir scheren Menschen, die wir einer bestimmten Gruppe zuordnen, schnell und unüberlegt über einen Kamm.

So werden aus sparsamen Schwaben plötzlich Geizhälse, Blondinen sind nicht besonders intelligent und Muslime verhalten sich generell frauenfeindlich.

Vorurteile sind nicht angeboren

Niemand von uns kommt bereits mit Vorurteilen zur Welt. Kinder lernen erst mit der Zeit, ihr Umfeld in Kategorien einzuteilen. Zum Beispiel in Männer und Frauen oder in Erwachsene und Kinder.

"Das passiert ungefähr im Alter von drei Jahren. Aber erst später lernen Kinder dann, die einzelnen Kategorien auch zu bewerten", so Wagner.

Um diese Entwicklung zu verstehen, hilft ein Video, das vor einiger Zeit im Netz ein viraler Hit war.

Dabei fragte Rapper Fard für "Hiphop.de" den vierjährigen Niklas, ob in seinem Kindergarten auch Ausländer seien. Die schlagfertige Antwort des Vierjährigen: "Nein, da sind Kinder."

Das hält Prof. Ulrich Wagner für ein interessantes Beispiel, denn man erkennt deutlich, dass Niklas bereits in der Lage ist, seine Umwelt in Kategorien einzuteilen. Er benutzt nur noch nicht dieselben Kategorien wie ein Erwachsener.

Viele soziale Vorurteile und stereotype Vorstellungen übernimmt der Nachwuchs im Laufe des Lebens von seinen Eltern, Verwandten und Freunden. Später werden diese durch Soziale Medien, Presse und Politik verstärkt oder geschwächt.

Wie sich Vorurteile entwickeln

Bei der Entstehung von Vorurteilen gilt es, zwei Prozesse zu unterscheiden. Zum einen individuelle und psychologische Mechanismen, zum anderen soziale und gesellschaftliche Komponenten.

"Wir werden in eine Gesellschaft hineingeboren, in der es gewisse Vorstellungen und Stereotype zu einzelnen Gruppen gibt", so Wagner.

Trauriges und markantes Beispiel ist der Antisemitismus. Judenfeindlichkeit gründet auf alten, gesellschaftlichen Stereotypen, die seit Jahrhunderten weitergegeben werden und unabhängig von einem einzelnen Individuum bestehen.

Die Kategorien, nach denen wir Menschen einteilen, werden uns von der Gesellschaft vermittelt. Wir finden sie nicht einfach in unseren Köpfen.

Die individuellen psychologischen Mechanismen greifen, indem wir auch uns selbst bestimmten Gruppen zuordnen und uns mit ihnen identifizieren.

Fußballfans, die einen bestimmten Verein oder ihr Heimatland unterstützen, werten ihre eigene Gruppe auf und Fans eines anderen Vereins oder Landes damit automatisch ab.

"Die anderen" werden nicht nur in dieser, sondern in den meisten Situationen als schlechter eingestuft – Gruppeneinteilung führt zu verzerrten Wahrnehmungen.

Bedrohung durch Stereotype

Auch unser eigenes Verhalten verändert sich, wenn andere eine falsche Meinung von uns haben.

Ein einfaches Beispiel: Dass die meisten Frauen nicht besonders gut in Mathe sind, ist ein Vorurteil, das sich sehr hartnäckig hält. Was diese Bedrohung durch Stereotype auslöst, ist besonders interessant, erklärt Wagner.

"Frauen sehen sich in Matheprüfungen durch diese Vorurteile noch mehr unter Druck. Das hat zur Folge, dass viele von ihnen in dieser Stresssituation deutlich schlechter abschneiden, als es ihrem tatsächlichen Können entspricht. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung."

Um dieser zu entgehen, ist bei "abgestempelten" Gruppen oft auch ein Prozess von Überkompensation zu beobachten.

Viele Einzelkinder wehren sich zum Beispiel gegen das Vorurteil, egoistisch zu sein und nicht teilen zu können. Sie wollen der Gesellschaft durch bestimmte Verhaltensmuster unbedingt das Gegenteil beweisen.

Verstärkung durch das Umfeld

Vorurteile können grundsätzlich auch positiv sein – meist sind sie es jedoch nicht, denn wir haben Schwierigkeiten damit, fremde Gruppen positiver zu betrachten als unsere eigene.

Stereotype Vorstellungen manifestieren sich über Generationen und entwickeln sich immer weiter. Dabei werden sie durch unser soziales und gesellschaftliches Umfeld unterstützt und verstärkt.

"Wir umgeben uns meist mit Menschen, die dieselben Ansichten haben wie wir. Wir bestärken uns gegenseitig darin und vermeiden so, uns gegenteiligen Erkenntnissen auszusetzen, die unsere Vorurteile widerlegen könnten."

Menschen, die fremdenfeindlich sind, haben meist auch Freunde, die fremdenfeindlich sind. Sie vermeiden gezielt den Kontakt mit Fremden und können dadurch gar keine anderen Erfahrungen machen oder sich vom Gegenteil überzeugen.

Durch den Kontakt mit Gleichgesinnten stabilisiert sich die eigene Sicht der Dinge und man erfährt Bestätigung aus dem Umfeld.

Generalisierung ist keine Seltenheit

Wer negative Ereignisse mit einer bestimmten Gruppe in Verbindung bringt, kann sich diese Kombination besonders gut merken.

Die sexuellen Übergriffe auf Frauen durch Gruppen vorwiegend nordafrikanischer und arabischer Männer in der Silvesternacht 2015/16 in Köln haben das negative Bild von Flüchtlingen stark beeinflusst.

Das Vorurteil, alle männlichen Flüchtlinge seien gegenüber Frauen übergriffig, hat sich in vielen Köpfen durch die Ereignisse gefestigt. Es handelt sich um eine kognitive Verzerrung, bei der alle Personen einer bestimmten Gruppierung über einen Kamm geschert werden.

Es sind die seltenen und negativen Ereignisse, die uns besonders gut im Gedächtnis bleiben, erklärt Wagner. "Das liegt daran, dass wir Menschen eigentlich nicht besonders fleißig beim Nachdenken sind. Wir sind kognitive Geizhälse."

Und Vorurteile helfen uns eben dabei, die Welt leichter zu verstehen und in ihrer Komplexität zu reduzieren.

Reflexion erfordert viel Energie

Wer selbst Vorurteilen ausgesetzt ist, fühlt sich meist gekränkt und ungerecht behandelt. Was man tun kann, um sich davon nicht emotional runterziehen zu lassen?

"Man sollte sich bewusstmachen, dass es nicht gegen einen selbst als Person geht, sondern das Gegenüber von Stereotypen geleitet wird. Denn in den meisten Fällen handelt es sich tatsächlich nicht um eine individuelle Kränkung, sondern um eine Generalisierung", erklärt Wagner.

Um selbst möglichst vorurteilsfrei mit unseren Mitmenschen umzugehen, sei es hilfreich, darüber nachzudenken, wie wir eigentlich funktionieren und ob das Urteil, das wir über eine Person oder Gruppe abgeben, überhaupt gerechtfertigt ist.

"Menschen, die versuchen, aktiv mit ihren Vorurteilen umzugehen, lassen sich in ihrem Verhalten weniger davon leiten. Die Reflexion unserer Vorurteile und Verallgemeinerungen erfordert jedoch viel Energie. Man muss sich dagegen wehren, andere Menschen nicht nach den gesellschaftlich vorgegebenen Stereotypen zu beurteilen."

Quellen:

  • Interview mit Prof. Dr. Ulrich Wagner, Sozialpsychologie, Uni Marburg
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Was sind Vorurteile?
  • Hiphop.de: Rapper Fard und der vierjährige Niklas über Ausländer im Kindergarten
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