Ilanz - Schon beim Aufstieg aus dem Val Lumnezia, zu Deutsch "Tal des Lichts", bekommt man eine Ahnung: Diese Tour wird anders als andere Wanderungen in den Alpen. Die Gruppe überquert sumpfige Wiesen, letzte Schneefelder und vorsichtig, auf überspülten Steinen balancierend, einen tosenden Bergbach.

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Dann hinter dem Diesrut-Pass (2.428 m) weitet sich der Blick auf eine Schwemmebene: Unzählige Wasserläufe mäandern umher. Sie nähren den Rein da Sumvitg, einen Zufluss des Rheins, der sich tief unterhalb der Wanderer in grauen Schleifen auf grüner Aue ausbreitet.

Das Panorama aus baumloser Weite und Tiefe, in der es überall fließendes Wasser zu geben scheint, hat etwas Magisches. Man spricht auch von der Tundra der Alpen.

"Ein Kraftort", sagt Marianne, Sportlehrerin aus Graubünden, die mit drei Familienmitgliedern vom Lumnezia ins Sumvitg-Tal über die Greina wandert.

Ihr Nachname sei Nebensache, ab der Zweitausender-Marke verflögen alle Formalitäten, sagt sie. Nur die Schönheit der Landschaft, ihre Ursprünglichkeit zählten. Die Worte der Frau, der wir uns für die Wanderung angeschlossen haben, wiegen hier, an diesem abgelegenen Ort zwischen den Kantonen Tessin und Graubünden, besonders schwer. Denn einer der schönsten Hochebenen der Schweiz drohte buchstäblich der Untergang.

Wasser - statt Segen, beinahe ein Fluch

Wasser trägt zur landschaftlichen Schönheit der Greina maßgeblich bei. Aber es wäre beinahe zum Fluch geworden: Da, wo der Zufluss des Rheins ins Tal stürzt, sollte eine hohe Mauer aus sechs Kilometern Aue im Naturbecken der Bergriesen einen Stausee machen - zur Stromgewinnung durch Wasserkraft.

Kühe am Val Lumnezia während einer Greina-Wanderung
"Tal des Lichts": Kühe im Val Lumnezia. © dpa / Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn

Erste Konzessionen gab es schon vor über hundert Jahren; Baupläne konkretisierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Sechzigern erteilte der Kanton Graubünden sogar eine Genehmigung. Doch es gab Proteste.

Umweltschützer hielten das Stoppschild hoch, auch Geologen: "Die Probebohrungen haben gezeigt, dass der See nicht so dicht gewesen wäre. Wir gehen hier vom kristallinen Gestein ins Sediment über", sagt Bergführer Toni Trummer-Tomaschett unterwegs. Schlechter Fels also für einen Stausee. Die Kraftwerkgesellschaft gab auf.

"Es ist ein Segen, dass die Überflutung der Greina verhindert werden konnte", sagt Marianne. Mehr noch: Als Teil des "Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung" Greina - Piz Medel wurde die Hochebene, die als eine der letzten "unberührten" Hochgebirgslandschaften der Schweiz gilt, zum Landschaftsschutzgebiet.

Das war 1996. Damals bewarb sich Toni Trummer-Tomaschett als Hüttenwart beim Schweizer Alpen-Club für die Terrihütte, und er bekam den Job. Seit dreißig Jahren nun ist er hier jeden Sommer sieben Tage die Woche tätig: zwischen Grünteppich und Wasserlauf auf einem gigantischen Felsbuckel, ein paar Meter weiter unten der rauschende Rein da Sumvitg.

Eine Trutzburg am Eingang der Greina

Seit hundert Jahren ist die 1925 errichtete steinerne Terrihütte eine Art Trutzburg am Eingang der Greina. Vier Stunden muss man über die gängigen Routen einplanen, um allein sie zu erreichen, egal, ob wie wir über den Diesrut-Pass oder die Bündner Seite von Vrin aus kommend. Immerhin sechstausend Gäste beherbergte die Hütte im vergangenen Sommer.

Für Toni Trummer und seine Frau Doris bedeutet das: morgens die Wandergäste mit selbstgemachtem Joghurt und selbstgebackenem Brot versorgen, abends ein Vier-Gänge-Menü zaubern und zwischendurch für Ordnung sorgen. "Vom Brunnenmeister bis zum Klärwart bin ich alles", sagt der gelernte Metzger. Der Strom wird mit Wasserkraft produziert - selbstverständlich in kleinem Stil. Wasser wird vor Ort aufbereitet, Duschen gibt es nicht.

Wegmarkierung im Val Lumnezia
Seltene menschliche Spur: Wegmarkierung im Val Lumnezia. © dpa / Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn

Ein Makel in der Nachhaltigkeitsbilanz der Terrihütte ist der Hubschrauber. Er bringt die Lebensmittel, nimmt den Müll mit. Notwendig wird das aber nur, da keine Straße, keine Seilbahn, ja sogar kein Strommast in der Greinaebene zu finden ist.

Stornieren Gäste wetterbedingt, verschieben die Wirtsleute die nächste Helikopter-Bestellung und besorgen das Notwendigste selbst. Doris nimmt dann den kürzesten, aber auch steilsten Abstieg ins Tal Sumvitg nach Runcahez, wo das Auto der Familie steht. Nur, dass die Wirtin denselben Weg gleich wieder zurücklegt – dieses Mal mit gefülltem Rucksack.

Ausgehend von der Terrihütte schaffen geübte Wanderer wie Doris den Weg über die Greina-Ebene an einem Tag. Die meisten aber lassen sich Zeit und planen eine oder zwei Übernachtungen ein. Drei weitere Hütten gibt es in der Greina. "Das ist ein ruhiger Tourismus", sagt Toni.

Marianne erklärt unsere Variante: "Einmal gehen wir der Greina entgegen, auf dem Rückweg folgen wir dem Wasserlauf." Auch exponierte Stellen meistert die Sportlerin ohne Stöcke und Kettennutzung, achtet aber stets darauf, dass kein Weggefährte auf der Strecke bleibt.

Seltene Sichtung: Katze in Berglandschaft

An diesem eher grauen Vormittag ist niemand sonst unterwegs, lediglich unterhalb der Baumgrenze überquert ein Luchs spielend leicht den Wasserfall: "Das ist einmalig", flüstert Marianne. Nur äußerst selten bekommen Wanderer die Wildkatze zu Gesicht. Die Hochebene in den Alpen ist Wildnis. Steinbock, Murmeltier und Gams sind hier die "Hüttentiere".

Die Sorge, dass Influencer und ihre stylishen Bilder die Ebene mit Wanderern fluten, teilt Hüttenwirt Toni übrigens nicht. Außerdem ziehe die Aufnahmekapazität eine Grenze ein. Im Sommer 2025 schrumpft die Zahl der Übernachtungsplätze sogar - die größte Hütte der Greina wird pünktlich zum 100. Jubiläum einmal wieder umgebaut und mit Vierbettzimmern und Badsanierung modernisiert. Statt 110 Betten sind es dann vorübergehend nur 35.

Hängebrücke im Val Lumnezia
Wer den Pass Diesrut hinter sich hat, muss über die Hängebrücke im Val Lumnezia. © dpa / Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn

Toni Trummer-Tomaschett, Mitte 60, könnte bald in Rente gehen, aber die Hütte der Greina, sie lässt ihn nicht los.

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Die Greina ist eine Hochebene im Südosten der Schweiz.

Reisezeit: Erwandern lässt sich die Greina am besten in den Sommermonaten von Tessin oder Graubünden aus.

Wanderroute: Eine mögliche, mittelschwere Tour durch die Greina, für die sechseinhalb Stunden Wandern auf zwei Tage verteilt veranschlagt werden, besteht aus den Etappen Puzzatsch - Pass Diesrut - Hängebrücke Punt la Greina - Terrihütte - Crest la Greina - Alp da Tenigia - Runcahez (15 Kilometer). Weitere Touren sind möglich.

Anreise: Mit dem Auto benötigt man bis Puzzatsch etwa ab Berlin zehn, ab Köln acht und ab München noch vier Stunden. Oder man nimmt den Zug bis zum nächstgelegenen Fernreisebahnhof in Chur. Von dort bis Ilanz sind es mit der Rhätischen Bahn noch 35 Minuten, dann mit dem Postbus nach Vrin. Für die Weiterfahrt hinauf nach Puzzatsch muss man sich via App anmelden. Telefonisch vorbestellt (+41 79 150 66 66) werden muss der Wanderbus bis oder ab Runcahez.

Die Hütten: Die Terrihütte öffnet ab 14. Juni wieder, eine Übernachtung mit Halbpension kostet regulär 99 Schweizer Franken, Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs SAC zahlen 85 Franken, Reservierungen unter terrihuette.ch; die weiteren Hütten der Greina listet surselva.info; wer in Ilanz übernachten möchte, findet im "Haus der Begegnung" im Kloster Ilanz eine preisgünstige Option: Einzelzimmer ab 75 Franken, Doppelzimmer ab 125 Franken.

Geld: Ein Euro entspricht derzeit 0,94 Schweizer Franken (CHF; Stand: 30.04.2025); das Preisniveau ist hoch.

Weiterführende Informationen: surselva.info  © Deutsche Presse-Agentur