UNICEF-Sprecherin Ninja Charbonneau war in Syrien, um zu verstehen, wie es den Menschen und vor allem den Kindern ein Jahr nach Ende des Krieges geht. Sie berichtet einerseits von zarter Hoffnung, aber gleichzeitig von einem zutiefst erschütterten Land, das nach 13 Jahren Krieg vor einem Neuanfang inmitten einer Trümmerlandschaft steht.
Beinahe ein Jahr ist es jetzt her, dass die Menschen in Syrien Hoffnung schöpften: Durch den Machtwechsel im Dezember letzten Jahres endete die Herrschaft von
Viele Kinder im Land kennen nichts anderes als Krieg. Sie sind im Krieg geboren, zwischen Bombardierungen und Zerstörung aufgewachsen und wurden ihrer Kindheit beraubt. Im Gespräch berichtet die UNICEF-Sprecherin Ninja Charbonneau von ihrem Besuch bei Familien, die in Höhlen leben, explodierenden Mieten und denjenigen, die jetzt freiwillig zurückkommen – und was sie dabei vorfinden.
Frau Charbonneau, Sie waren vor acht Jahren in Syrien und sind nun erneut hingefahren. Was hat sich verändert?
Ninja Charbonneau: Der offensichtlichste Unterschied ist, dass Syrien vor acht Jahren noch mitten im Bürgerkrieg war und das den Alltag der Kinder immens geprägt hat. Der Krieg ist jetzt seit dem Machtwechsel im Dezember 2024 vorbei. Gleichzeitig bleibt die Situation sehr instabil. Es gibt weiterhin bewaffnete Auseinandersetzungen und Spannungen. Das Land ist voller Landminen und Blindgänger, die eine große Gefahr für Kinder sind. Dazu kommt, dass die humanitäre Situation katastrophal ist und über sieben Millionen Kinder Hilfe brauchen, weil große Teile des Landes in Trümmern liegen und viele Familien in Armut leben.
Das klingt eher düster. Gibt es denn auch Positives?
Es gibt beides. Die Menschen haben große Hoffnung, dass jetzt eine neue Ära für das Land beginnt. Für die Kinder besteht die riesige Chance, dass sie endlich in einer friedlichen Zukunft aufwachsen können, ohne die dauernde Angst vor Bomben, mit einem normalen Alltag zwischen Schule und Spielen. Gleichzeitig haben uns viele Eltern berichtet, dass ihre größte Sorge weiterhin der Sicherheit und Gesundheit der Kinder gilt und sie oft nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.
"Es fehlt an grundlegenden Dingen: an Sicherheit, einem Dach über dem Kopf, Strom, Wasser, ausreichend Nahrungsmitteln, Krankenhäusern, Schulen."
Wie genau zeigt sich die Not der Menschen?
Wir waren während unseres Besuchs wirklich erschüttert von dem immensen Ausmaß der Zerstörung. In Städten wie Homs und Aleppo sind bis zu 40 Prozent der Häuser zerstört. Wir sind auch in einem Dorf gewesen, Latamne, das zu 100 Prozent zerstört ist. Dort stand kein einziges komplettes Haus mehr. Es fehlt an grundlegenden Dingen: an Sicherheit, einem Dach über dem Kopf, Strom, Wasser, ausreichend Nahrungsmittel, Krankenhäusern, Schulen. Viele haben im Krieg alles verloren und finden keine Arbeit. Armut ist weit verbreitet. Wir haben Kinder gesehen, die mit ihren Familien auf Feldern arbeiten oder im Müll nach verwertbaren Dingen suchen.
Was ist für Kinder besonders gefährlich?
Eine große Gefahr für Kinder sind Minen und Blindgänger, die in ehemals umkämpften Gebieten überall unter den Trümmern und im Boden sind. Kinder fassen Dinge einfach an oder heben sie auf, weil sie interessant aussehen. Sie können explodieren und zu schweren Verletzungen führen. Auch die Kriminalitätsrate ist enorm hoch. Kinder und Mütter haben uns erzählt, dass es häufig zu Überfällen und Entführungen kommt. Das macht den Kindern große Angst. Gesundheitsgefahren gibt es auch durch verschmutztes Wasser und Mangelernährung.
In Deutschland wird derzeit debattiert, ob es für Menschen sicher ist, wieder nach Syrien abgeschoben zu werden, jetzt wo der Krieg vorbei ist. Wie sicher ist es in Syrien?
Die Sicherheitslage in Syrien ist weiterhin sehr angespannt. Es gibt nicht nur ein riesiges Ausmaß an Zerstörung, sondern auch der gesellschaftliche Zusammenhalt hat nach all den Jahren des Krieges gelitten. Viele Menschen haben starke Traumata, die es zu verarbeiten gilt. Dazu kommt die humanitäre Not. Für Familien, die jetzt zurückkehren, sind es sehr harte Bedingungen. Im Moment führt die relativ große Zahl von rund drei Millionen Menschen, die aus anderen Landesteilen oder den Nachbarländern bereits zurückgekehrt sind, dazu, dass der Druck auf die Systeme noch gestiegen ist.
Was haben Sie von den Familien erfahren, die Sie vor Ort getroffen haben?
Jede Familie in Syrien hat Geschichten von Verlust zu erzählen. Da war zum Beispiel eine Familie, die bereits während des Krieges zwei Räume in einer Steinhöhle ausgebaut hatte, wo sie vor Bomben und Kämpfen Schutz gesucht haben. Das haben sie vier Jahre lang ausgehalten. Schließlich sind sie von dort geflohen, nachdem der Vater schwer verletzt worden war. Sie flohen nach Idlib und sind nach dem Machtwechsel wieder in ihren Heimatort nach Latamne zurückgekehrt. Das ist ein Dorf, welches jetzt vollständig zerstört ist. Weil dort nichts mehr steht, wohnen sie vorübergehend wieder in der Höhle.
Das klingt unvorstellbar. Haben Ihnen andere Familien ähnliches berichtet?
Woanders hat uns eine Mutter erzählt, dass sie mit ihren damals noch sehr kleinen Kindern über lange Zeit in einem zwei mal zwei Meter großen Tunnel, den die Familie selbst gegraben hat, versucht hat Schutz zu finden. Andere Familien berichten, dass die Mieten explodieren, weil gerade dort, wo viele zerstörte Häuser sind, die Nachfrage nach bewohnbaren Wohnungen groß ist. Menschen mit einem geringen Einkommen können sich diese Mieten kaum leisten. Eine alleinerziehende Mutter in Aleppo muss zum Beispiel fast ihr ganzes Gehalt, das sie für prekäre Arbeit in einer Fabrik verdient, für die Miete einer fensterlosen Mini-Wohnung und den Strom-Generator aufbringen. Der Rest reicht kaum für Essen und Kleidung. Spielsachen kann sich die Familie nicht leisten.
"In die anfängliche Hoffnung mischt sich Ernüchterung und Sorge angesichts der Not."
Trotzdem gibt es Menschen, die auch freiwillig wieder nach Syrien zurückkommen. Haben sie so eine große Hoffnung, dass sie wieder ihr altes Leben aufnehmen können?
Die Familien, die wir getroffen haben, hatten nach dem Machtwechsel große Hoffnung. Die Sehnsucht nach der Heimat war groß. Aber manche haben auch Druck von außen gespürt, sie fühlten sich in den Gastländern nicht mehr willkommen. Sie haben auch erzählt, dass sich ihre Lebensbedingungen jetzt deutlich verschlechtert haben im Vergleich zu ihrem Leben im Libanon oder in Jordanien. In die anfängliche Hoffnung mischt sich Ernüchterung und Sorge angesichts der Not. Trotzdem: Alles ist besser als der Krieg, hat es eine Mutter ausgedrückt. Mit Blick auf die Kinder dürfen wir nicht vergessen, dass viele von ihnen nicht in Syrien geboren und aufgewachsen sind – von Rückkehr in ihr altes Leben kann also keine Rede sein. Sie kommen in eine ihnen fremde Heimat, die größtenteils zerstört ist.
UNICEF ist vor Ort, um weiterhin humanitäre Hilfe zu leisten. Was sind Wege, den Kindern zu helfen?
Der Einsatz von UNICEF ist sehr umfassend in Syrien und beinhaltet sowohl akute Nothilfe als auch frühe Wiederaufbauhilfe. UNICEF hilft unter anderem beim Wiederaufbau der Wasserversorgung und einer Basis-Gesundheitsversorgung, da diese nicht überall vorhanden ist. Ein wichtiger Teil der Hilfe ist, das Bildungssystem wieder zu stärken, zum Beispiel durch den Wiederaufbau und die Ausstattung von Schulen, aber auch Trainings für Lehrer und Lehrerinnen. Wir bieten auch psychosoziale Hilfe für Kinder und Eltern an. Die Angebote sind räumlich nah gebündelt, sodass sie gut ineinandergreifen.
Wie kann man Kinder nach so einem langen Krieg psychologisch auffangen?
UNICEF organisiert zusammen mit lokalen NGO-Partnern Kurse für Kinder und Jugendliche. Zum Beispiel lernen sie mit ihren Gefühlen umzugehen und diese zu benennen. Sie bekommen Tipps zur Stressbewältigung. Die Kinder haben uns bei unserem Besuch erklärt, was man alles machen kann, wenn man sich gestresst und unglücklich fühlt, zum Beispiel Atemtechnik oder den Raum verlassen oder Spazierengehen. Das ist natürlich keine psychologische Therapie, aber es hilft, die Kinder zu stärken. Besonders beeindruckend fand ich, dass dabei nicht nur die mentale Gesundheit gefördert wird, sondern auch das soziale Zusammenleben der Menschen.
Können Sie das erläutern?
Oft treffen Kinder und Familien aufeinander, die unter Umständen vorher verfeindeten Gruppen angehört haben. Es leben auf einmal Familien nebeneinander, von denen einige den Krieg 13 Jahre lang miterlebt haben und andere jetzt erst zurückkehren. Die jahrelange Gewalt hat bei vielen Menschen zu einer Verrohung geführt. Es gibt Konkurrenz um die knappen Ressourcen wie Wohnungen und Jobs. All das ergibt ein hohes Potenzial für Spannung. Jetzt kommen Kinder und Familien aus unterschiedlichen Gruppen zusammen, sprechen über ihre Erlebnisse.
"Bildung ist nicht nur wichtig für die Kinder, weil es ihnen einen geregelten Alltag und die Chance auf einen Bildungsweg wiedergibt, sondern es ist auch immens wichtig für das Land."
Was wird am dringendsten benötigt, um Kindern eine Perspektive zu geben?
Empfehlungen der Redaktion
Die Hoffnung, die das Land hat, richtet sich sehr stark auf die Kinder, weil sie die neue Generation in Syrien sind. Sie sind eine Generation der Hoffnung - gleichzeitig sind sie eine Generation, die schon sehr viel durchgemacht hat und die sich nichts sehnlicher wünscht, als in Frieden zu leben. Ganz wichtig für sie ist: Sie wollen zur Schule gehen. Sie wollen Ärztin werden, Ingenieur, Lehrerin oder Pilot. Das sind genau die Menschen, die die Zukunft des Landes tragen. Bildung ist nicht nur wichtig für die Kinder, weil es ihnen einen geregelten Alltag und die Chance auf einen Bildungsweg wiedergibt, sondern es ist auch immens wichtig für das Land.
Sie waren vor acht Jahren da und jetzt wieder. Gibt es etwas, was Ihnen Hoffnung gemacht hat?
Ja, vor allem die Begegnungen mit den Kindern, weil sie nach wie vor diese positive Art haben, an alles ranzugehen und ihre Träume zu verfolgen. In ihnen steckt eine Stärke und diese Lust auf Zukunft. Aber sie haben auch sehr viel durchgemacht und brauchen weiterhin dringend Unterstützung. Der Wiederaufbau, der jetzt erst langsam anläuft, wird noch lange dauern.
Über die Gesprächspartnerin
- Ninja Charbonneau ist Leiterin der Presseabteilung von UNICEF Deutschland. Charbonneau arbeitet seit 2007 bei UNICEF Deutschland, zunächst als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und ab 2012 als Pressesprecherin. Vor kurzem war sie gemeinsam mit dem Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, in Syrien.