Die Bedrohungslage in Deutschland verschärft sich zunehmend. Immer lauter werden die Forderungen, sich angemessen für den Verteidigungsfall vorzubereiten. Doch damit gehen auch ethische Fragen einher. Denn wer soll tatsächlich zur Waffe greifen, wenn es zum Äußersten kommt?
Wir alle wollen in Frieden leben. Doch wenn es darum geht, wer eine aktive Rolle einnimmt, um diesen Frieden zu sichern, wird es schnell kompliziert. "Bitte nicht mein Mann", "Auf keinen Fall mein Sohn" denken sich viele – aber wer dann?
Es ist eine komplexe ethische Frage, auf die es keine leichten Antworten gibt. Sie könnte uns aber schneller beschäftigen, als uns lieb ist. Das zeigen zum Beispiel die immer häufigeren Provokationen aus Russland, etwa kürzlich mit Drohnen im polnischen Luftraum.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das "RedaktionsNetzwerk Deutschland" fanden es 67 Prozent der Befragten prinzipiell richtig, dass Deutschland seine Ausgaben für Verteidigung bis zum Jahr 2032 verdoppeln will. Anders die Zahlen bei der Bereitschaft, selbst zu den Waffen zu greifen. 59 Prozent wären dazu "wahrscheinlich nicht" oder "auf keinen Fall" bereit.
Sicherheit ist Aufgabe des Staates – doch es gibt "moralische Schwarzfahrer"
"Wenn jemand eine Leistung in Anspruch nimmt, aber nicht bereit ist, sich an den Kosten zu beteiligen, dann ist das ungerecht und unsolidarisch." Das sagt Friedrich Lohmann, Professor für Evangelische Theorie an der Universität der Bundeswehr in München, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wir sprechen in der Moraltheorie bei einem solchen Verhalten von Schwarz- oder Trittbrettfahren und verallgemeinern damit das, was jemand tut, der ohne Ticket öffentliche Verkehrsmittel nutzt."
Im modernen Staat sei die Gewährleistung von Sicherheit eine Aufgabe des Staates, erklärt Lohmann. "Sicherheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an deren Kosten sich alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten beteiligen sollten, denn Sicherheit kommt allen zugute", so Lohmann. "Das heißt nicht, dass alle bei der Bundeswehr oder bei der Polizei einrücken. Die Beteiligung an den Kosten kann auch finanziell, durch die Bereitschaft zum Zahlen möglicherweise erhöhter Steuern geschehen."
"Individualwohl und Gemeinwohl gehen Hand in Hand. Denn in einer Gesellschaft, in der das Gemeinwohl außen vor bleibt, ist auch das Individualwohl gefährdet."
Doch wo genau endet individuelle Verantwortung und wo beginnt die Pflicht gegenüber dem Gemeinwohl? "Wir haben als Menschen zunächst einmal eine Verantwortung für uns selbst und unser eigenes Leben", sagt Lohmann. "Es wäre aber falsch, die Verantwortung für das Gemeinwohl dem entgegenzusetzen. Individualwohl und Gemeinwohl gehen Hand in Hand. Denn in einer Gesellschaft, in der das Gemeinwohl außen vor bleibt, ist auch das Individualwohl gefährdet."
Lohmann nennt hierfür ein Beispiel: "Wenn ich meine Abfälle nach dem Stadtparkbesuch einfach liegen lasse und nicht im Papierkorb entsorge, dann ist das für mich erstmal bequem. Wenn das aber viele so machen, dann verliert der vermüllte Stadtpark seinen Reiz – auch für mich."
Dilemma: Ein 26-Jähriger will nicht für sein Land sterben
Dass man sich mit einem Staatsgebilde nicht solidarisch fühlen muss, zeigt der Autor Ole Nymoen. In einem Artikel für "Die Zeit" schrieb der damals 26-Jährige: "Entscheidend für dieses Wir-Gefühl ist die Fiktion, dass die Sicherheit eines jeden Menschen mit der des Staates, in dem er zufälligerweise geboren wurde, in eins fällt. Dabei ist der Krieg im Regelfall der beste Beweis für das Gegenteil: Wenn junge Männer … für eine 'Sicherheit', die angeblich die ihre ist, sterben müssen – dann kann es sich offenkundig nicht wirklich um den Schutz ihres Lebens handeln, der als Zweck verfolgt wird, wenn Staaten angreifen oder sich verteidigen."
Das Fazit für Nymoen: "Wenn ich mir nun die Frage stelle, wofür ich zu kämpfen bereit wäre, dann muss ich ehrlich sein: für fast gar nichts."
Politikwissenschaftler sieht Demokratie als schützenswertes Gut
Für den Politikwissenschaftler Niklas Schörnig ist gerade der Staat ein Wert, der sich – auch unter Risiken – zu verteidigen lohnt. "Unsere Demokratie ist aus sehr vielen Gründen ein sehr schützenswertes Gut", sagt er unserer Redaktion. Dabei führt er eine "besondere Beobachtung" ins Feld: "Mindestens seit 1818 haben keine zwei Staaten mehr, die man als 'demokratisch' bezeichnen kann, Krieg gegeneinander geführt. Demokratisierung und das Einstehen für die Demokratie sind also Friedensstrategien, sofern Demokratie nicht militärisch oktroyiert wird. Hierfür auch individuelle Risiken einzugehen, scheint mir angemessen."
Das Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit und individueller Unversehrtheit ist für Schörnig nachvollziehbar und verständlich.
Dabei gibt er zwei Dinge zu bedenken: "Erstens schützt eine breite Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen vor überstürzten militärischen Abenteuern. Gerade in Deutschland ist dieser Aspekt durch den Parlamentsvorbehalt besonders stark ausgeprägt." Zweitens diene eine starke und abwehrbereite Armee der Abschreckung, solle also verhindern, dass es überhaupt zu einem Kriegseinsatz kommt.
Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee: Wie soll unsere Verteidigung aussehen?
Gerade an der Stärke der Bundeswehr gibt es jedoch berechtigte Zweifel, weshalb nun plötzlich wieder die Wehrpflicht in den Fokus gerät. "In einem demokratischen Staat ist eine Wehrpflicht natürlich ein Eingriff in individuelle Freiheitsrechte", sagt Schörnig. "Insoweit findet eine reine Freiwilligenarmee in einer sehr individualistischen Gesellschaft stärkere Akzeptanz."
Trotzdem ist eine Wehrpflicht, die breite Bevölkerungsschichten einbezieht, nach Ansicht des Experten "der beste Schutz vor militärischen Abenteuern und aggressivem Außenverhalten". Wenn die Last auf wenige Gruppen, Freiwillige oder gar private Militärunternehmen abgewälzt werde, sei ein solches aggressives Außenverhalten dagegen eher wahrscheinlich. Der Grund: Entscheidungsträger könnten die Kosten des Krieges kleinen Gruppen eher zumuten und müssten dabei weniger Kritik und Widerstand fürchten.
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Das Dilemma der Sicherheitspolitik: Alte Gewissheiten gelten nicht mehr
Für Friedrich Lohmann gibt es ethische Probleme auf beiden Seiten. "Wenn in einem Staat nur Freiwillige in der Armee sind, dann droht vergessen zu werden, dass Sicherheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist", erklärt der Theologe. "Andererseits würde eine allgemeine Wehrpflicht viel mehr Menschen mobilisieren, als die Bundeswehr braucht und beschäftigen kann, jedenfalls aktuell. Es würde nur ein Teil der Verpflichteten eingezogen, was Probleme mit der Wehrgerechtigkeit mit sich bringt." Eine Lösung könnte für Lohmann eine allgemeine Dienstpflicht sein, bei der die Verpflichteten zwischen dem Wehrdienst und anderen Gemeinwohlaufgaben wählen können.
Das Dilemma, das Sicherheitspolitik immer mit sich bringt, müssen wir als Gesellschaft wohl aushalten. Lohmann weist in diesem Zusammenhang auf die veränderte Sicherheitslage hin: "Was 2013, vor dem ersten Angriff Russlands auf die Ukraine und vor Donald Trump, noch richtig war, ist es jetzt nicht mehr." Von der Politik wünscht er sich deshalb, dass "zügig Entscheidungen getroffen werden, die der neuen Bedrohungslage Rechnung tragen – in einem Geist der Einmütigkeit, über parteipolitische Interessen hinweg".
Über die Gesprächspartner
- Friedrich Lohmann ist Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundeswehr München.
- Dr. Niklas Schörnig ist Senior Researcher im Programmbereich Internationale Sicherheit und Leiter der Forschungsgruppe Emerging Disruptive Technologies am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Friedrich Lohmann
- Gespräch mit Niklas Schörnig
- rnd.de: Forsa-Umfrage für das RND. Mehr Geld für die Verteidigung – nur kämpfen wollen die Deutschen eher nicht
- zeit.de: Ich, für Deutschland kämpfen? Never!