Einsamkeit, so heißt es oft, ist vor allem ein Problem der Älteren. Doch was, wenn da niemand ist, von dem du im Schulbus schnell noch die Mathehausaufgabe abschreiben kannst, der am Anfang des Schuljahres selbstverständlich neben dir sitzen möchte und mit dem du Pläne für die nächste Klassenfahrt schmiedest? Ein Projekt in Ingolstadt bietet Schülerinnen und Schülern mit solchen Erfahrungen einen Raum. Die Idee dazu hatte die 18 Jahre alte Luna.
Himmel und Hölle - nur fünf Minuten im Flur eines Gymnasiums in Ingolstadt reichen, um wieder zu wissen, dass die Schulzeit beides sein kann. Je nachdem, wen man fragt. Auf der roten Couch vor KH7 haben es sich zwei Mädchen bequem gemacht. Sie sind etwa 16 Jahre alt, liegen sich gegenüber, die Beine überschlagen, Adidas Sambas in die Luft gestreckt. Kaugummi kauend scrollen sie durch ihre Social-Media-Feeds. Gelegentlich tauschen sie Blicke aus und kichern auf die Art, die man unweigerlich auf sich bezieht. In der Ecke gegenüber steht ein Mädchen im gleichen Alter. Sie hat einen französischen Zopf, ihr Blick hinter der goldumrahmten Brille ist ernst.
Zwei Stunden später wird sie, Emily, lachend mit acht anderen Schülern Wasserbomben von der Schuldachterrasse werfen, basteln - aber auch über ihre Erfahrungen mit dem Alleinsein und Anschlussfinden sprechen. Genau dafür ist sie an diesem Tag im Raum KH7 des Katharinen-Gymnasiums in Ingolstadt. Hier findet einmal pro Woche "Friendship" statt, ein Projekt, das sich an Schülerinnen und Schüler richtet, die mit Einsamkeit kämpfen.

Denn wie der 15 Jahre alten Emily geht es vielen jungen Menschen in Deutschland. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Deutschen Jugendinstituts fühlen sich 22 Prozent der Fünf- bis Elfjährigen manchmal einsam, also im Schnitt jedes fünfte Kind im Grundschulalter.
Was ist Einsamkeit eigentlich?
- Während Alleinsein beschreibt, dass andere Menschen (temporär) nicht zugegen sind, ist Einsamkeit ein negatives Gefühl. Es entsteht laut einer Definition des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, wenn "die gewünschten sozialen Beziehungen nicht mit den tatsächlichen sozialen Beziehungen übereinstimmen".
- Einsamkeit kann Depression begünstigen oder aus ihr entstehen. Wer sich sehr niedergeschlagen, teilnahmslos oder sehr einsam fühlt, findet hier Hilfsangebote.
Über die gesamte Gruppe der Kinder und Jugendlichen seien es etwa 10 bis 15 Prozent, sagt Susanne Bücker. Sie ist Professorin für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke. Einsamkeit bei jungen Menschen ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Während der Corona-Pandemie, als die Schulen geschlossen waren, fühlten sich sehr viele Kinder einsam. "Überraschend ist, dass das Einsamkeitsgefühl auch nach der Pandemie auf hohem Niveau geblieben ist", sagt Bücker.
Woran das genau liegt, wissen Forschende nicht genau. Bücker vermutet, dass es mehrere Gründe sind. "Manche Kinder erzählen, dass sie den Anschluss verloren haben, als sich nur zwei Haushalte treffen durften", sagt Bücker. Wenn man dann damals keine ganz engen Freunde hatte, seien Kontakte verloren gegangen. "Später, nach den Schulschließungen, war man dann kein Teil von irgendeiner dieser Cliquen."
Doch zumindest einen positiven Aspekt hatte die Corona-Zeit für Bücker: "Themen wie Einsamkeit und soziale Beziehungen standen plötzlich im Schlaglicht." Es könne also auch sein, dass sich jetzt einfach mehr (junge) Menschen trauten, darüber zu sprechen.
Das Konzept: Alle sind willkommen
Auch bei dem Projekt "Friendship" am Ingolstädter Katharinen-Gymnasium gibt es Platz für diese Gespräche. "Wir machen sogar schräge Witze über Mobbing, die andere nicht verstehen würden, weil sie es nicht erlebt haben. Das ist eine Art Coping-Strategie", sagt die 18 Jahre alte Luna mit einem schiefen Lächeln. Sie trägt kurze Locken, ein Bandshirt und Schuhe mit Karomuster. Auf ihre Hand hat sie sich etwas mit Kuli gekritzelt, später muss sie noch kurz in die Turnhalle, Volleyball-Noten machen. "Manchmal kommen Themen hoch, dann sprechen wir darüber, manchmal später allein mit Frau Mohr", sagt Luna.
Gemeinsam mit Kristina Mohr hat sie das Projekt gegründet. Der Sozialpädagogin vertraute sich Luna vor einem Jahr an: Damals gab es in ihrem alten Freundeskreis viel Streit. Sie erzählte davon, plötzlich nicht mehr dazuzugehören und von dem Gefühl, sich für andere einzusetzen, nur um dann selbst zur Zielscheibe zu werden.
"Am Anfang saßen wir zu zweit da, ich hatte wirklich Angst, dass niemand kommt."
Kristina Mohr hörte Luna zu. Und sagte: Das machen wir! Gemeinsam entwickelten die beiden "Friendship" und warben dafür in der Aula. Das Konzept: Alle sind willkommen, um neue Freundschaften zu schließen. "Am Anfang saßen wir zu zweit da, ich hatte wirklich Angst, dass niemand kommt", sagt Luna. Was sie damals noch nicht wissen kann: Die Menschen werden kommen. Andere Kinder, die sich angesprochen fühlen, sogar aus anderen Schulen.
Auch Emily sah die "Friendship"-Plakate. In ihrer Klasse hat sie bisher nicht so recht Anschluss gefunden. Sie begeistert sich für Rechtschreibung und Grammatik, mit "Denglisch und TikTok kann ich nichts anfangen", sagt die 15-Jährige. Ihre Augen leuchten, wenn sie von Weltliteratur spricht, von "Stolz und Vorurteil" oder "Der Besuch der alten Dame".
Ihre Mutter habe sie dazu ermutigt, einfach mal zu "Friendship" zu gehen, sagt Emily. Was solle schon passieren? Im schlimmsten Fall würde es ihr nicht gefallen. "Ich habe zwei Anläufe gebraucht, beim ersten Mal bin ich wieder umgekehrt, aber beim zweiten Mal habe ich mich getraut", sagt Emily und lächelt. Was das Schöne an "Friendship" ist? "Ich kann dort ganz ich selbst sein."
Etwas Ähnliches wird später auch die 12 Jahre alte Julia sagen. "Man kann hier die ganze Zeit reden, was man will. In der Klasse muss man leise sein. Und wenn man nicht aufpasst, dann kriegt man Ärger." Die Fünftklässlerin, die bei "Friendship" die anderen Kinder zum Lachen bringt, tut sich in ihrer eigenen Klasse schwer, Freunde zu finden. "Die Jungs interessieren sich bloß für Fußball. Die Mädels sind immer in Gruppen zusammen und spielen miteinander", sagt sie. "Sie sehen mich bloß als Ersatzfreundin an, wenn eine Freundin krank ist. Sobald sie wieder da ist, werde ich wieder ausgeschlossen."
Welches Einsamkeitsgefühl besonders schmerzhaft sein kann
Das, was Julia beschreibt, erleben Kinder, die von Einsamkeit betroffen sind, laut Susanne Bücker oft im Alltag: Als Letztes beim Sportunterricht in eine Gruppe gewählt zu werden oder als Einzige nicht zum Kindergeburtstag eingeladen zu werden. "Diese Ausgrenzungserfahrungen kann ich ja nur machen, wenn andere um mich herum sind", sagt Bücker. "Dieses Einsamkeitsgefühl – umgeben von anderen – ist manchmal das viel schmerzhaftere."
Was tun, wenn das Kind einsam ist?
- Susanne Bücker spricht im Interview über Warnsignale und den ersten Impuls, den viele Eltern besser unterdrücken sollten, wenn ihr Kind einsam ist.
- Das ganze Interview lesen Sie hier.
Das Projekt bedeutet Luna viel. "Es freut mich vor allem für die anderen", sagt sie. "Ich hätte mir damals auch so etwas gewünscht." Denn wie schwierig die Stunden im Klassenzimmer sein können, die Zeit neben Menschen, die dir das Gefühl geben, nicht richtig zu sein, das weiß Luna genau. Über die anderen Kinder und Jugendlichen bei "Friendship" sagt sie: "Ich hoffe, sie sehen es als Urlaub von der Hölle."
Was passiert, wenn man sich traut
Für Emily ist es mehr als das. "Seit ich bei 'Friendship' bin, habe ich zwei Freundinnen in meiner Klasse gefunden", sagt sie lächelnd. "Die beiden haben mich immer wieder angesprochen, aber erst seit 'Friendship' habe ich dieses Selbstvertrauen und habe ihre Einladungen angenommen."
Auch die Fünftklässlerin Julia sagt, dass sie über das Projekt bisher zwei Freunde gefunden hat. Die 12-Jährige hat begriffen, dass es sich nicht lohnt, "immer mit den gleichen Leuten herumzuhängen, bis sie einen akzeptieren. Denn es gibt auf dieser Welt noch viel, viel mehr Leute, die etwas mit einem machen wollen."
Verwendete Quellen
- Eindrücke und Gespräche vor Ort
- Einzelinterviews mit Emily, Julia und Luna
- telefonisches Interview mit Susanne Bücker