Einsamkeit trifft alle, schon die jüngsten. Jedes fünfte Kind zwischen 5 und 11 Jahren fühlt sich einsam. Und als wäre das allein nicht schon schlimm genug, haben nicht nur die betroffenen Kinder, sondern auch ihre Eltern oft Schwierigkeiten, darüber zu sprechen.
Susanne Bücker ist Professorin für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie an der Universität Witten/ Herdecke. Sie forscht seit Jahren zum Thema Einsamkeit. Im Interview spricht sie darüber, wie Geld und Einsamkeit zusammenhängen, über gut gemeinte Ratschläge und über das, was betroffene Kinder oft eigentlich brauchen.
Frau Bücker, sind Kinder anders einsam als Erwachsene?
Susanne Bücker: Einsamkeit immer etwas damit zu tun, wie gut ich in ein soziales Netz eingebettet bin. Dieses Netz unterscheidet sich bei Kindern und Erwachsenen. Für Kinder und auch für Jugendliche gibt es zwei zentrale Bezugspersonengruppen: Gleichaltrige, etwa in der Schule, im Kindergarten oder in der Nachbarschaft, und die Eltern. Mit zunehmendem Alter werden Freunde wichtiger. Später kommen romantische Beziehungen und der Wunsch nach einem Partner hinzu. Insofern unterscheidet sich die Einsamkeit schon, weil sich je nach Alter ändert, welche sozialen Bezugsgruppen besonders wichtig sind. Zwar empfinden auch Kinder und Jugendliche Einsamkeit vergleichbar wie Erwachsene: ein Gefühl der Leere, der Traurigkeit, dass sie so anders sind als die anderen um sie herum, also dass sie nicht so richtig hineinpassen. Kinder formulieren das manchmal etwas anders.
Wie sprechen Kinder denn über Einsamkeit?
Sie sagen zum Beispiel, dass sie sich wie ein Alien fühlen. Sie sprechen von dem Gefühl, wie Luft zu sein. Dass sie niemand richtig wahrnimmt oder es niemandem auffallen würde, wenn sie nicht in die Schule kämen.
Gehört es aber nicht auch zum Erwachsenwerden dazu, sich unverstanden und einsam zu fühlen?
Ja. Gerade in der Pubertät ist das ein Stück weit normal. Aus diesem Grund sind die Einsamkeitsraten in Kindheit, Jugendalter und jungem Erwachsenenalter auch höher als im hohen Alter. Junge Menschen müssen erst einmal herausfinden, wie sie sein und wie sie nicht sein möchten. Dazu brauchen sie andere Menschen – und die Möglichkeit, sich von ihnen abzugrenzen. Das birgt auch das Risiko, phasenweise das Gefühl zu haben, nicht ganz dazuzupassen. Eltern sollten das nicht pathologisieren und sofort alarmiert sein.
Was sind denn hingegen Warnsignale, die Eltern ernst nehmen sollten?
Wenn es in der Kindheit noch was ganz Normales war, dass man immer mal wieder auch bei jemandem zu Hause war oder jemanden mit nach Hause gebracht hat und dann plötzlich hört das auf. Oder wenn Jugendliche alle Interessen zu verlieren scheinen, die etwas mit dem Kontakt mit anderen zu tun haben. Wenn sie gar nicht mehr in die Schule gehen möchten oder zum Vereinssport. Wenn sie sich stark in Online-Welten flüchten. Auch bei Antriebslosigkeit sollte man aufhorchen. Wenn Kinder und Jugendliche morgens gar nicht mehr aus dem Bett kommen, sich immer weiter zurückziehen. Bis zu einem bestimmten Grad ist das normal in der Pubertät, aber es können Warnsignale sein, man sollte dann das Gespräch suchen.
Laufen manche Kinder eher Gefahr, sich einsam zu fühlen?
Einsamkeit ist auch ein strukturelles Problem. Kinder, die auch von Armut betroffen sind, sind deutlich stärker gefährdet zu vereinsamen, ebenso auch Kinder von Alleinerziehenden. Es sind häufig strukturelle Probleme, die es den Kindern schwermachen, sozial teilzuhaben und mit anderen in den Kontakt zu kommen. Auch das Gefühl, nicht ganz reinzupassen, etwa weil man im Gegensatz zu allen Kumpels kein Interesse an Mädchen, sondern an Jungs hat.
"Beim Thema Einsamkeit schwingt ein Stigma mit. Die Kinder schämen sich oft."
Das gilt aber genauso auch für Kinder oder Jugendliche mit Migrationshintergrund, die vielleicht irgendwann in der Kindheit noch gar nicht so sehr merken, dass sie vielleicht doch in gewisser Hinsicht anders sind als andere und dann den Eindruck haben, sie passen irgendwie plötzlich nicht mehr so richtig rein. Das Problem ist auch, dass sich betroffene Kinder und Jugendliche eher zurückziehen, wenn sie sich einsam fühlen. Die allerwenigsten trauen sich offen, über Einsamkeitsgefühle zu sprechen.
Woran liegt das?
Beim Thema Einsamkeit schwingt ein Stigma mit. Die Kinder schämen sich oft. Außerdem gibt es die Erwartungshaltung an sie: Du bist ein junger Mensch in der Blüte deines Lebens, du hast alle Möglichkeiten. Ihnen wird abgesprochen, sich einsam fühlen zu können. Doch auch für viele Eltern ist die Einsamkeit ihres Kindes ein Tabuthema. Viele sprechen über Defizite oder Entwicklungsverzögerungen. Aber dass ihre Kinder einsam sind, dass sie nicht zu Geburtstagen eingeladen werden, darüber sprechen sie sehr selten.
Wie können Eltern besser mit dem Thema umgehen?
Zuerst kann man sich selbst die Frage stellen: Wer sind eigentlich die besten Freunde meines Kindes? Wenn man das nicht weiß, kann man das Kind explizit danach fragen: Mit wem verbringst du denn am liebsten Zeit in der Klasse? Kinder und Jugendliche möchten verstanden werden und dass ihr Gefühl akzeptiert wird und dass man sagt: Ja, es ist okay, dass du dich so fühlst. Manchmal hilft es auch, wenn man als Eltern selbst auch über eigene Erfahrungen spricht. Dann sagt ein Kind manchmal: Ja, so etwas hatte ich auch schon mal.
Was sollte man hingegen nicht machen als Elternteil oder nicht sagen, wenn man vermutet, dass das eigene Kind von Einsamkeit betroffen ist?
Manchmal tendieren wir dazu - auch im Umgang mit Gleichaltrigen -, direkt Ratschläge zu verteilen, wie die Person sich verhalten sollte. Menschen, die sich einsam fühlen, auch Jugendliche, brauchen aber meist einfach ein offenes Ohr, jemanden, der ihnen zuhört. Wenn man zum Beispiel fragt, wie es heute in der Schule war, dann sollte man sich nicht immer mit einem "Gut" direkt abspeisen lassen. Das ist ein Balanceakt: Offenheit und aufrichtiges Interesse am Erleben des Kindes zu signalisieren, ohne zu viel nachzubohren.
Welche Erwartungen können in dem Zusammenhang Druck ausüben?
Wenn man so etwas sagt wie: "Du musst doch so und so viele Freundinnen und Freunde haben" oder "Es ist doch komisch, dass du nur einen Freund oder eine Freundin hast" oder "Also ich hatte damals immer zehn Freundinnen und Freunde. Warum hast du denn nur einen?" Das wäre sicherlich kontraproduktiv. Gleichzeitig erleben Kinder und Jugendliche auch, mehr als manchen Erwachsenen klar ist, dass es ihre Eltern belasten kann, wenn es dem Kind nicht gut geht. So ein Gedanke wie: Ich muss gut eingebunden sein und viele Freunde haben, sonst macht sich Mama die ganze Zeit Sorgen. Sobald Kinder das Gefühl haben, sie sind verantwortlich für die Emotionen der eigenen Eltern, ist das ein Problem.
Was können Eltern konkret tun, wenn ihre Kinder ihnen anvertrauen, dass sie einsam sind?
Es ist wichtig, mit dem Kind im Kontakt zu bleiben. Eltern können sicher nicht Freunde ersetzen, aber sie können eine stabile Konstante im sozialen Netzwerk eines Jugendlichen sein. Und wenn die Eltern dann auch noch wegbrechen würden, weil sie sich vielleicht gar nicht für die Belange des Kindes interessieren oder gar nicht sehen, dass das Kind vielleicht leidet, dann ist das ein zusätzlicher Risikofaktor, dass die Kinder und Jugendlichen dann auch später da nicht rauskommen.
Empfehlungen der Redaktion
Man kann sich gemeinsam mit dem Kind überlegen, was ihm Spaß macht. Über gemeinsame Hobbys lernt man andere kennen, zum Beispiel im Sportverein oder bei ehrenamtlicher Arbeit im Tierheim. Die stärksten Prädiktoren für Freundschaft sind ähnliche Interessen oder geografische Nähe, dass ich mich auch regelmäßig mit den Leuten treffen kann.
Und was kann man tun, wenn Kinder in der Schule wenig Anschluss haben?
Mit den Lehrkräften ins Gespräch kommen und fragen, was sie im Schulalltag beobachten. Wenn man dann das Gefühl hat, dass das Kind sehr stark belastet ist und gar nicht mehr in die Schule gehen will, gibt es die Möglichkeit, mit einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin darüber zu sprechen. Ein Schulsozialarbeiter oder -psychologe kann vermitteln, falls man nicht so leicht einen Platz bekommt. Ansonsten kann aber auch der Kinderarzt Empfehlungen aussprechen, wohin man sich wenden kann. Im äußersten Fall kann auch ein Schulwechsel sinnvoll sein.
Über die Gesprächspartnerin
- Susanne Bücker ist Professorin für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Einsamkeit junger Menschen.
- Derzeit erforscht sie, wie verschiedene Persönlichkeitseigenschaften bei Kindern und Jugendlichen mit Einsamkeit und anderen Gefühlen zusammenhängen und was Kinder und Jugendliche tun, um mit ihren Gefühlen umzugehen. Dazu werden Eltern von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren befragt und Kinder ab 10 Jahren, wenn ihre Eltern zustimmen.