Grüne Smoothies, 10.000 Schritte am Tag und den Schlaftracker am Handgelenk: Gesundheit ist heute Pflichtprogramm. Warum uns der Trend zur Selbstoptimierung trotzdem nicht gesünder macht und warum Krankheit plötzlich als Anzeichen persönlichen Scheiterns gilt.
Fitness-Tracker, Nahrungsergänzungsmittel, Biohacking: Der Drang zur Selbstoptimierung und der Wunsch nach einem langen, gesunden Leben hat Hochkonjunktur. Das spiegelt sich auch im rasanten Wachstum des globalen Wellnessmarkts wider: 2023 erzielte der mit 6,3 Billionen US-Dollar einen neuen Rekordwert. Damit ist er inzwischen etwa viermal so groß wie der globale Pharmamarkt. Seit über einem Jahrzehnt wächst die Branche konstant um 6,5 Prozent pro Jahr. Zwischen 2023 und 2028 dürfte das Wachstum sogar auf 7,3 Prozent steigen. Spätestens dann – so die Prognose – sollte die Branche die 9-Billionen-Dollar-Schwelle überschreiten.
Experte: Boomender Gesundheitsmarkt macht uns nicht gesünder
Gesund, aktiv, leistungsfähig – so wollen viele leben. Doch Friedrich Schorn, Bremer Soziologe und Autor des Buches "Healthismus. Gesundheit als gesellschaftliche Obsession", warnt im Interview mit unserer Redaktion davor, aus dem globalen Wellness-Boom falsche Schlüsse zu ziehen: "Gesundheit ist in erster Linie ein riesiger Markt, der zwar expandiert, aber uns deswegen nicht unbedingt gesünder macht."
Denn obwohl Menschen in Deutschland, den USA oder Großbritannien immer mehr Geld für ihre Gesundheit ausgeben, stagniert beispielsweise die Lebenserwartung. Gleichzeitig steigt die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Diabetes-Diagnosen. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder stressbedingte Beschwerden sind auf dem Vormarsch. In Deutschland etwa nahm die Zahl der ärztlich verordneten Tagesdosen für Antidepressiva in den 2010er-Jahren um 37 Prozent zu. Seit 1990 haben sie sich nahezu verzehnfacht.
Healthismus: Was ist das?
Paradoxerweise führt die Fixierung auf Gesundheit offenbar längst nicht bei allen zum erwünschten Ziel: einer Verbesserung des Wohlbefindens und einer Verlängerung des Lebens. Einer der Gründe dafür: das Denken des Healthismus. Dahinter steht die Vorstellung, dass Gesundheit vor allem ein Ergebnis des individuellen Verhaltens sei.
Wer seine Risikofaktoren kennt, sich richtig ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, sich genug bewegt, weder zu viel noch zu wenig schläft, Schadstoffe und Stressfaktoren jeglicher Art vermeidet, bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben. Dabei ist wissenschaftlich längst bekannt, dass (chronische) Erkrankungen nicht allein durch Lebensstilfaktoren entstehen.
Healthismus vs. gesunder Lebensstil
Natürlich ist es besser für die Gesundheit, nicht zu rauchen, auf Alkohol zu verzichten und sich ausgewogen zu ernähren. Doch was ein "gesunder Lebensstil" ist, kann sich individuell von Mensch zu Mensch unterscheiden, sagt Schorb. Für die eine bedeutet es, regelmäßig Sport zu treiben, für den anderen, sich Zeit für sich selbst zu nehmen.
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Wieder andere fühlen sich dann am wohlsten, wenn sie mit ihrem Freundeskreis ins Stadion oder auf ein Konzert gehen. Entscheidend sei am Ende nicht die Einhaltung eines vorgegebenen Verhaltenskatalogs, sondern die persönliche Lebenszufriedenheit und ein Gefühl von Ausgeglichenheit, so der Experte.
"Einen gesunden Lebensstil muss man sich leisten können"
"Ein gesunder Lebensstil bedeutet vor allem, mit dem eigenen Leben im Großen und Ganzen zufrieden zu sein", sagt Schorb. Doch das ist nicht für alle gleichermaßen zu verwirklichen. Denn einen gesunden und selbstbestimmten Lebensstil muss man sich leisten können. Er ist ein Privileg.
Wer mehrere Jobs jongliert oder allein Care-Arbeit für Kinder oder pflegebedürftige Eltern leistet, denkt morgens nicht als erstes an grüne Smoothies. Wer jeden Cent umdrehen muss oder in sozial benachteiligten Verhältnissen lebt, hat wenig Spielraum, sich selbst zu verwirklichen und das Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
Gesundheit beginnt nicht auf der Yogamatte
Es sind also nicht nur Apps, eine regelmäßige Yogapraxis und genügend Avocados, die beeinflussen, wie gesund wir leben und wie alt wir werden. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Frage ist also weniger: Wie oft meditiere ich? Oder: Wie viele Schritte bin ich heute gegangen?
Sondern: Fährt die Bahn heute pünktlich, damit ich rechtzeitig zur Arbeit komme? Bekommt mein Kind einen Platz in der Kita? Ist meine Wohnung bezahlbar, mein Arbeitsplatz sicher und reicht mein Einkommen für gesunde Lebensmittel und ab und zu eine Urlaubsreise? Und: Lebe ich in einer Gesellschaft, in der ich für meinen Körper verurteilt werden, weil er nicht dem Idealbild auf Werbeplakaten entspricht?
Optimierung als Pflicht und Privileg
Diese Realität ignoriert der Healthismus. Er impliziert, dass wir alle die gleichen Möglichkeiten haben, uns um unsere Gesundheit zu kümmern. Zudem verlangt er eine messbare Dokumentation: "Das heißt: mein BMI, meine Muskelmasse, mein Cholesterin, mein Blutzucker, meine Zeiten beim Laufen, Fahrradfahren oder Schwimmen müssen immer weiter optimiert werden. Und: Ich muss besser sein, als die anderen", erklärt Schorb. Gesundheit wird damit zu einer sozialen Währung in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Damit steigt auch der Druck.
Körperliche Fitness sei heute auch eng mit der gesellschaftlichen Stellung verknüpft: "Ein schönes Beispiel dafür sind die gesellschaftlichen Idealvorstellungen, die wir von Managern haben", so Schorb. Während das Klischee-Bild eines Firmen-Bosses früher ein dicklicher Mann mit Weinbrandglas und Zigarre war, ist es heute ein intervallfastender, Smoothie-trinkender Marathonläufer. Ganz gemäß dem Motto: Wer führen will, muss auch sich selbst im Griff haben. Körperliche Selbstoptimierung wird zum elitären Privileg.
Abnehmspritze "Ozempic" als Symbol des Healthismus
Besonders hart trifft das Menschen deren Körper nicht dem Idealbild entspricht: "Sie werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, seltener eingestellt oder befördert und wenn sie privat versichert sind, müssen sie höhere Prämien zahlen", sagt Schorb.
Produkte wie die Abnehmspritze "Ozempic" sind typische Symbole dieser neuen Gesundheitskultur: Sie suggerieren, dass sich mit einem Pieks ein komplexes Problem aus der Welt schaffen lässt: Übergewicht in einer Gesellschaft, in der durch eine mächtige Industrie und großen Wohlstand ein ständiges Überangebot an Nahrungsmitteln voller Zucker, Fett und Salz herrscht. Dabei profitieren sie von der Diskriminierung dicker Menschen mit Wachstumsraten, wie sie sich in kaum einem anderen Bereich finden lassen.
Medizinisch notwendig sei Ozempic in vielen Fällen nicht. "Viele dicke Menschen leiden stärker unter Stigmatisierung als unter gesundheitlichen Problemen", so Schorb. Gleichzeitig seien Ozempic und Co. für die Industrie so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau. "Ein Präparat, das potenziell jeden zweiten Menschen in reichen Ländern zum Kunden hat und ein Leben lang eingenommen werden muss, kommt einer Lizenz zum Gelddrucken gleich."
Wie Soziale Medien den Druck zur Selbstoptimierung verstärken
Auch Soziale Medien tragen zur Verbreitung des Healthismus bei. Influencerinnen und Influencer präsentieren sich dort als vermeintlich ganz normale Menschen: die sympathische Nachbarin, der sportliche Kumpel von nebenan.
Die Botschaft dahinter: Wenn sie es schaffen, gesund zu leben, jeden Tag clean zu essen und morgens um 5 Uhr im Fitnessstudio zu trainieren, dann kannst Du das auch. "Was man dabei vergisst: Es ist ihr Beruf, sich selbst als Fitnessguru oder Ernährungsexpertin zu inszenieren und meist dann auch noch entsprechende Produkte oder Ratgeber zu verkaufen" so Schorb.
Healthismus auf die Spitze getrieben
Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie weit die Ideologie des Healthismus heute reicht, liefert der US-Tech-Unternehmer und Biohacker Bryan Johnson. Mit einem Tagesablauf, der minutengenau durchgetaktet ist, über hundert Nahrungsergänzungsmitteln täglich, einer strengen Diät und einer nicht endenden Reihe an medizinischen Selbstversuchen versucht er, den Alterungsprozess seines Körpers aufzuhalten. Beeindruckend? Vielleicht. Doch wer will und kann so leben? Denn der healthistische Lifestyle kostet den Biohacker stattliche 2 Millionen Dollar pro Jahr.
Verwendete Quellen
- globalwellnessinstitute.org: The Global Wellness Economy Reaches a New Peak of $6.3 Trillion
- Medizinische Universität Wien: Zunehmende Risiken führen zu Anstieg bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Zentralinstitut kassenärztliche Versorgung: Zi veröffentlicht Versorgungsatlas-Bericht zur regionalen Verteilung von Diabetes mellitus in Deutschland (2011-2023)