Im Sommer 1996 wird Belgien bis ins Mark erschüttert. Marc Dutroux, ein bereits vorbestrafter Sexualstraftäter, wird verhaftet – und damit brach ein Abgrund auf, der das Vertrauen in die belgische Justiz, in die Polizei und auch in die Politik nachhaltig beschädigte.
Ein unscheinbares Backsteinhaus in der Avenue de Philippeville 128, Charleroi. Zögernd tritt ein Mädchen ins Freie. Sie weint. Ein Mann begleitet sie behutsam, aber zügig zu einer wartenden Limousine. Nach ihr schlüpft ein zweites Mädchen in den Wagen. Diese Szene, hier in einem Video zu sehen, geht am 15. August 1996 um die Welt: Sie zeigt die Befreiung von Laetitia D. (14) und Sabine D. (12), Opfer des Pädokriminellen Marc Dutroux.
Der arbeitslose Elektriker hatte die Mädchen in einem nur zwei Quadratmeter großen Kellerverlies eingesperrt, gefoltert und vergewaltigt. Laetitia sechs Tage lang, Sabine ganze 80. "Dutroux hat nicht nur unsere Körper, er hat auch unseren Geist vergewaltigt", wird Laetitia laut "Süddeutscher Zeitung" im Prozess später sagen. Vier weitere Mädchen überlebten den Horror nicht: Julie, Mélissa, An und Eefje starben in den Fängen von Marc Dutroux.
Bis heute steht der Name Dutroux in Belgien für ein nationales Trauma, denn der Fall ist mehr als die Geschichte eines Monsters. Er erzählt von Ermittlungspannen und -versäumnissen, die einen ungeheuren Verdacht nährten: War er Teil eines Netzwerks, womöglich gedeckt von mächtigen Kreisen?
Dutroux beschäftigte die Polizei schon länger
Als am 24. Juni 1995 die beiden achtjährigen Mädchen Mélissa R. und Julie L. in Grâce-Hollogne verschwinden, taucht schon bald der Name Dutroux in einem Polizeibericht auf: Ein Informant gab an, Dutroux habe ihm für die Entführung junger Mädchen 150.000 Francs geboten. Er richte dafür gerade im Keller seines Hauses Zellen ein.
Doch zunächst geschieht nichts – dabei war Dutroux bei der Polizei einschlägig bekannt. 1989 wurden er und seine Ehefrau Michelle M. wegen Entführung und Vergewaltigung verschiedener junger Frauen verurteilt. Dutroux bekam 13,5 Jahre, seine Frau fünf. Wegen guter Führung kamen die beiden vorzeitig frei. 1992, ein Jahr nach Michelle M., wurde Dutroux entlassen – obwohl Fachleute damals vor dem Mann mit den dunklen Haaren und dem Schnauzbart gewarnt haben.
August 1995: An und Eefje verschwinden
Nachdem am 22. August 1995 die beiden Freundinnen An M. (17) und Eefje L., (19) nach dem Besuch einer Hypnoseshow in Blankenberge verschwinden, zeigte Dutroux' Mutter ihren Sohn beim zuständigen Ermittlungsrichter an. In einem Brief machte sie auf fragwürdige Machenschaften ihres Sohnes aufmerksam. Das Schreiben wurde jedoch ohne Nachfrage zu den Akten gelegt.
Trotz der Hinweise und Dutroux' Vorstrafen sollte es noch vier Monate dauern, bis Ermittler das heruntergekommene Backsteinhaus in Charleroi durchsuchten. Als die Beamten es im Dezember 1995 schließlich betreten, sitzt Dutroux gerade wegen Autodiebstahls eine dreimonatige Haftstrafe ab. Die beiden Achtjährigen Mélissa und Julie befinden sich in diesem Moment wohl im Kellerverlies des Hauses. Ein Polizist hört Kinderschreie, trotzdem endet die Durchsuchung ohne Ergebnis.
Kurz darauf sind Mélissa und Julie tot – verhungert und verdurstet, wie ein Obduktionsbericht später feststellt. Michelle M. und Komplize Michel L. sollten sich während Dutroux’ Haftstrafe um die Kinder kümmern, doch sie taten es nicht.
Sabine und Laetitia verschwinden
Am 28. Mai 1996 verschwindet Sabine D. Auf dem Heimweg von der Schule wird sie vom Fahrrad gezerrt und in einem weißen Transporter entführt. Wenige Monate später, am 9. August 1996, kommt Laetitia D. von einem Schwimmbadbesuch nicht nach Hause. Diesmal kann sich ein Zeuge Teile des Kennzeichens merken: Der Halter des weißen Transporters ist Marc Dutroux.
Kurz darauf werden Dutroux, seine Frau Michelle und ihr Komplize Michel L. festgenommen. Dutroux gesteht. Erst führt er die Ermittelnden zum Kellerverlies, aus dem Sabine und Laetitia lebend befreit werden können, dann zu den Leichen der anderen vier Mädchen. Er hatte sie in den Gärten verschiedener Häuser verbuddelt.
Die Teenagerinnen An und Eefje wurden wohl Anfang September 1995 getötet. Es gibt Hinweise darauf, dass sie gefesselt, mit Drogen betäubt und lebendig begraben wurden. Der Komplize Bernard W. soll Dutroux dabei geholfen haben. Auch seine Leiche findet die Polizei später in einem der Gärten.
Wurde Dutroux von oberster Stelle gedeckt?
Hätte die Polizei Dutroux früher ins Visier genommen, könnten die Mädchen noch leben. Von Anfang an steht daher ein Verdacht im Raum: Dutroux war kein Einzeltäter. Auch der Kriminelle selbst behauptet immer wieder, Teil eines Pädophilen-Netzwerks mit Verbindungen in die höchsten Kreise der Macht zu sein.
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Der Volkszorn über die Ermittlungen entlädt sich im Oktober 1996: Am "Weißen Marsch" in Brüssel nehmen laut "brf.be" über 300.000 Menschen teil. Er wird als größte Demonstration in der Geschichte Belgiens eingehen. Die Demonstrantinnen und Demonstranten fordern Gerechtigkeit, Aufklärung und einen grundlegenden Wandel in Polizei und Justiz. "Nie wieder Dutroux" wird zum Appell einer ganzen Generation.
Dutroux' Flucht und 27 tote Zeuginnen und Zeugen
Doch die Pannen und Fehler gehen weiter. Bei einem Gerichtstermin im April 1998 kann Dutroux kurzzeitig fliehen. Er wird von einem Großaufgebot der Polizei gesucht, nach wenigen Stunden stöbern ihn Spürhunde in einem Waldstück auf. Der Aufschrei in der Bevölkerung ist groß: Wie konnte dem Hochrisikohäftling einfach so die Flucht gelingen?
Rätselhaft sind auch die Todesfälle von insgesamt 27 Zeuginnen und Zeugen in dem Fall. Im Juli 1999 wird Staatsanwalt Hubert Massa erschossen in seinem Büro aufgefunden. Erst einen Monat zuvor war der engagierte Ankläger mit der Untersuchung der Affäre beauftragt worden.
Bei den meisten der 27 Todesfällen im Zusammenhang mit diesem Prozess geht die Justiz entweder von einem Unfall oder, wie bei Massa, von einem Selbstmord aus. Eine ungewöhnliche Häufung - kann das wirklich Zufall sein?
Der Prozess: Vier Personen auf der Anklagebank
Im März 2004 – acht Jahre nach der Befreiung von Laetitia und Sabine – beginnt schließlich der Prozess in Arlon. Angeklagt wird neben Dutroux, Michelle M. und dem Komplizen Michel L. überraschend auch der belgische Geschäftsmann Michel N., der Kontakte in Politik und Wirtschaft pflegte.
Zeuginnen und Zeugen brachten Michel N. mit Sexpartys mit minderjährigen Mädchen in Zusammenhang. Auch Dutroux bezeichnete ihn wiederholt als Bindeglied zu einem Pädophilen-Netzwerk. Er habe die Mädchen in seinem Auftrag entführt.
Nichts in dem Fall ist vollständig aufgeklärt
Am 17. Juni 2004 wird Marc Dutroux zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Seine Frau erhält 30 Jahre, Michel L. 25. Der Geschäftsmann Michel N. wird wegen Menschenhandels zu fünf Jahren Haft verurteilt – ein Zusammenhang zum Fall Dutroux wird ihm nicht nachgewiesen. Für viele bleibt er jedoch eine Schlüsselfigur, deren wahre Rolle nie vollständig geklärt wurde.
Ermittlungen in Richtung eines Pädophilen-Netzwerks gab es nie. Die offizielle Darstellung bleibt: Dutroux handelte mit wenigen Komplizen allein. Das irritierte selbst den damaligen Chefankläger Michel Bourlet. Im Interview mit der "Welt am Sonntag" sagte er 2016: "Ich verstehe nicht, warum die Ermittlungen, die ich gefordert habe, nicht geführt wurden." Auch der damalige Justizminister Marc Verwilghen, der zwei U-Ausschüsse in dem Fall leitete, sagte der Zeitung: "Ich wurde immer wieder gestoppt." Von wem, das lässt Verwilghen offen. Er gibt aber zu: Nichts in dem Fall ist vollständig aufgeklärt.
"Haus des Schreckens" ist jetzt ein Gedenkort
Marc Dutroux ist heute 68 Jahre alt. Er sitzt seit rund 30 Jahren in Einzelhaft auf neun Quadratmetern – mehr Platz, als er seinen Opfern zugestand. Immer wieder klagte er gegen die Haftbedingungen, doch seine Chancen auf vorzeitige Entlassung stehen schlecht. Ein neues psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 2020 bestätigte: Von Dutroux geht laut "brf.be" weiter eine Gefahr aus.
Das "Haus des Schreckens" in der Avenue de Philippeville 128, Charleroi, wurde laut "FAZ" mittlerweile abgerissen. Nur die Kellerräume blieben auf Wunsch der Opferfamilien erhalten. Darüber wurden Bäume gepflanzt, ein Wandgemälde zeigt ein Kind, das einem aufsteigenden Drachen hinterherschaut. Ein Ort der Befriedung soll es sein - doch zu viele Fragen sind im Fall Dutroux bis heute unbeantwortet.
Verwendete Quellen
- Belgischer Rundfunk (brf.be): Gutachten: Von Dutroux geht weiter eine Gefahr aus
- Belgischer Rundfunk (brf.be): 25 Jahre Weißer Marsch in Brüssel
- FAZ.net: Ein Gedenkgarten auf dem Grundstück des Kindermörders
- N-tv.de: Die monströsen Taten des Marc Dutroux
- Süddeutsche Zeitung: Er hat auch unseren Geist vergewaltigt
- Welt.de: Warum der Fall Dutroux Belgien nicht loslässt
- Youtube-Kanal von RTBF Info: Affaire Dutroux: la libération de Sabine et Laetitia