Zwei Hunde bissen zu, ein Kind starb – und Deutschland veränderte seine Gesetze in Rekordzeit: Der Fall Volkan Kaya erschütterte vor 25 Jahren die Republik. Doch was haben die strengen Bestimmungen für "Kampfhunde" wirklich gebracht?

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Gesetzgebung ist oft ein zäher Prozess. Es braucht Gutachten, Debatten, Ausschüsse – Monate oder Jahre können vergehen, bis neue Regeln verabschiedet werden.

Doch manchmal reicht ein einziger Vorfall, um alles zu beschleunigen. Der Tod von Volkan Kaya war ein solcher Moment.

Ein Todesfall, der alles veränderte

Es war der 26. Juni 2000 in Hamburg. Volkan spielte in der großen Pause gerade mit anderen Kindern Fußball auf der Wiese neben dem Schulgelände, als plötzlich ein Hund – ein Mix aus Pitbull, Staffordshire und Bullterrier – über die anderthalb Meter hohe Mauer des Nachbargeländes sprang und direkt auf ihn zuschoss.

Der Hund riss ihn zu Boden, ein zweiter Hund - halb Pitbull, halb Staffordshire Terrier - tauchte auf. Abwechselnd attackierten sie Kopf und Hals des Kindes. Der Halter der beiden Hunde, Ibrahim K., und zwei herbeigeeilte Zeugen können die Tiere nicht stoppen. Erst als die Polizei beide Tiere mit 18 Schüssen niederstreckt, lassen sie von dem Jungen ab. Doch da war es bereits zu spät: Volkan starb auf der Wiese, auf der er eben noch Fußball gespielt hatte.

Die schnelle Reaktion nach dem tödlichen Angriff

Der Tod des kleinen Volkan ging wie eine Schockwelle durch Deutschland. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach laut "Spiegel“ von "Kampfmaschinen", die von der Straße müssten. Friedrich Merz, damals Unionsfraktionschef, schlug vor, vorhandene Tiere zu kastrieren und zu sterilisieren, "damit es diese Hunde in Zukunft gar nicht mehr gibt".

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Der Bund verbot 2001 im "Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde" die Einfuhr von Pitbulls, American Staffordshires, Staffordshire-Bullterriern und Mischlingen dieser Rassen. In den Bundesländern reagierte man noch schneller.

Ein Flickenteppich an Gesetzen

Hamburg präsentierte keine 48 Stunden nach Volkans Tod die damals "schärfsten Vorschriften" der Bundesrepublik, die sich an den Regelungen des Waffengesetzes orientierten. Sie sahen unter anderem ein generelles Haltungs- und Zuchtverbot der genannten drei Rassen vor.

In einer zweiten Liste wurden weitere Rassen aufgezählt, bei denen eine Gefährlichkeit zumindest vermutet wurde – darunter Kangal und Rottweiler. Deren Haltung war fortan nur noch mit behördlicher Genehmigung erlaubt, Maulkorb und Leine wurden zur Pflicht. Andere Länder zogen nach, doch eine bundesweite Lösung scheiterte – es entstand ein föderaler Flickenteppich, der bis heute besteht.

"Rasselisten" existieren bis heute

Derzeit führen noch elf von 16 Bundesländern offizielle Rasselisten. Drei Rassen stehen überall darauf: American Pitbull Terrier, American Staffordshire Terrier und Bullterrier – doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Während Bayern 19 Rassen in zwei Kategorien einteilt, führen andere Länder deutlich weniger auf: Berlin nur drei, Hessen neun.

Auch wie mit den "Listenhunden" umzugehen ist, unterscheidet sich von Land zu Land. Meist gilt eine Maulkorb- und Leinenpflicht, oft braucht es für die Haltung eine behördliche Genehmigung, die mal großzügiger, mal restriktiver erteilt wird. Was im einen Land pauschal als gefährlich gilt, läuft im anderen nach einem Wesenstest frei herum – oder steht gar nicht erst auf einer Liste. Doch was haben all diese Regelungen gebracht?

Wenig Wirkung trotz harter Maßnahmen

Trotz der strengen Bestimmungen und "Rasselisten" hat sich die Zahl tödlicher Attacken seit 1998 kaum verändert. Jedes Jahr sterben nach Angaben von "Statista" in Deutschland im Schnitt drei bis vier Menschen durch Hundebisse. Und insgesamt hat die Zahl von Hundebissen in den vergangenen Jahren zugenommen.

In Bayern, einem der Länder mit den strengsten Gesetzen für "Kampfhunde", wurden im Jahr 2020 nach Auskunft des Bayerischen Innenministeriums 721 Menschen von Hunden gebissen. 2024 wurden insgesamt 902 Bisse gegen Menschen registriert – eine Zunahme von 25 Prozent. Sogenannte "Listenhunde" waren in beiden Jahren für rund sechs Prozent der Fälle verantwortlich. 94 Prozent der "Beißer" standen demnach nicht auf einer Liste. Eine Zunahme von Beißvorfällen berichten auch andere Bundesländer.

Zweifel an der Rasseliste: Was sagt die Wissenschaft?

"Diese Rasselisten sind sehr willkürlich. Wenn man Aggressivität an der Rasse festmachen könnte, dann müssten die Rasselisten eindeutiger sein", sagt Marie Nitzschner, Verhaltensbiologin und Hunde-Expertin. "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die genannten Rassen generell aggressiver sind."

Eine Studie der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2016 bestätigt das. Eine Analyse der Beißstatistiken aus dem Jahr 2012 ergab: Pitbulls, Staffordshires und Bullterrier fallen nicht häufiger durch Bisse auf als andere Hunde. Auch eine neuere Studie aus dem Jahr 2022 zeigt: Die Verbindung zwischen Rasse und Verhalten ist bei Weitem nicht so stark ausgeprägt, wie lange angenommen.

Wahr ist aber auch: Wenn ein Hund zubeißt, können die Angriffe bei bestimmten Rassen gravierendere Folgen haben als bei anderen. Eine US-Studie von 2011 untersuchte die Schwere von Hundebissen. In 82 Fällen, die in einem Unfallklinikum behandelt wurden, konnte die Rasse zugeordnet werden. Dabei zeigte sich: Die Behandlungskosten bei Pitbull-Angriffen waren im Schnitt 46 Prozent höher als bei anderen Rassen. Und während kein anderer Angriff tödlich endete, waren es bei den Pitbull-Fällen mehr als zehn Prozent.

Bei Hunden ist das Individuum entscheidend, nicht die Rasse

"Das könnte mit dem Terrier-Anteil in diesen Hunden zusammenhängen", vermutet Nitzschner. Staffordshire und Pitbull Terrier, einst Statussymbol der Arbeiterklasse, wurden im 19. Jahrhundert aus Englischen Bulldoggen und verschiedenen Terrier-Arten für Hundekämpfe gekreuzt. Ihr Kampfeswille stand dabei im Vordergrund – und was den massigen Bulldoggen an Schärfe fehlte, sollten die Terrier liefern.

Später verlagerte sich der Fokus der Zucht mehr auf familienfreundliche Hunde, doch auch heute noch werden illegal bestimmte Linien für Hundekämpfe gezüchtet. "Tiere aus diesen Linien können tatsächlich aggressiver sein", sagt Nitzschner. Doch daraus lasse sich kein Pauschalurteil über eine ganze Rasse ableiten. "Entscheidend ist immer das Individuum, nicht die Rasse."

Die Hunde, die Volkan Kaya töteten, war bereits zuvor auffällig

Aus welcher Linie oder Zucht die beiden Pitbull-Mischlinge Zeus und Gipsy abstammten, die Volkan Kaya zu Tode bissen, kann aus den damaligen Berichten über den Prozess nicht mehr rekonstruiert werden. Sicher ist nur: Es war nicht das erste Mal, dass die Hunde zubissen.

1999 verletzte Zeus laut "Spiegel“ innerhalb von nur acht Tagen mehrere Hunde. Ein Beagle überlebte den Angriff nicht. Die Fälle wurden angezeigt, der 25-jährige Halter Ibrahim K. musste seinen Rüden beim Amtstierarzt vorstellen. Der attestierte Zeus eine gesteigerte Aggressivität gegenüber Artgenossen – aber keine Gefahr für Menschen. Ein Fehler?

"Man darf das nicht verharmlosen, aber wenn ein Hund einen anderen Hund totgebissen hat, heißt das nicht automatisch, dass der auch aggressiv gegenüber Menschen ist", sagt Nitzschner. "Aggressivität gegen Artgenossen oder gegen Menschen – das sind zwei unterschiedliche Dinge."

Auflagen missachtet – mit fatalen Folgen

Natürlich müsse es in diesem Fall Vorgaben geben – und die gab es im Fall von Zeus: Eine Maulkorb- und Leinenpflicht wurde über den 37-Kilo-Rüden verhängt, doch Ibrahim K. hielt sich nicht daran. Die Maulkörbe, die ihm gefielen, waren zu teuer. Und einen anderen wollte er nicht.

Während Zeus bis dahin nicht gegen Menschen auffällig geworden war, überschritt der zweite Hund, Gipsy, diese Grenze bereits Wochen vor Volkans Tod. Die Hündin – ein Geschenk für K.s Freundin Silja W. – zerrte am 11. Mai 2000 ein elfjähriges Mädchen von einer Parkbank und biss ihr in den Arm.

Wieder kam es zur Anzeige, wieder wurde eine Maulkorbpflicht verhängt – und wieder nahmen die Halter die Anordnungen nicht allzu ernst. Nachdem Gipsy ihren ersten Maulkorb zerbissen hatte, kaufte das Paar keinen neuen.

Wenn der Beutetrieb zum Risiko wird

Vor Gericht wurden Ibrahim K. und Silja W. später wegen fahrlässiger Tötung zu drei Jahren und sechs Monaten Haft sowie zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Einen Vorsatz erkannte das Gericht bei den beiden Angeklagten nicht. Ibrahim K. und Silja W. hatten ihre Hunde nicht bewusst zu "Kampfmaschinen" ausgebildet. Durch ihre Unkenntnis und ihren Leichtsinn konnte sich jedoch eine Kraft entfesseln, der sie nicht gewachsen waren.

Innerhalb eines Jahres musste die Stadt rund 50 Schaukelsitze auf dem nahegelegenen Spielplatz austauschen, nachdem sie durchgebissen worden waren. Ibrahim K. soll die Hunde regelrecht dazu animiert haben, sich an ihnen "auszutoben". "Das sind alles Elemente vom Beutefangverhalten", sagt Nitzschner. Auch im Fall Volkan sei fraglich, ob es sich bei dem Angriff tatsächlich um Aggression gehandelt habe – oder vielmehr um einen fehlgeleiteten Beutetrieb. "Letzteres halte ich für wahrscheinlicher."

Eine Studie aus dem Jahr 2014, die tödliche Hundebisse an Kindern untersuchte – darunter der Fall Volkan – kam zu ähnlichen Befunden: Die Verletzungsmuster ähnelten stark dem Jagd- und Beutefangverhalten von Wölfen und Haushunden, an deren Ende das Töten der Beute steht.

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Viele Hunde zeigen einen Beute- und Jagdtrieb – sie richtig einschätzen und kontrollieren zu können, liegt in der Verantwortung jedes Hundehalters. Unabhängig von der Rasse. "Spiele mit Bewegungsreizen, wie etwa Ballspielen, sollten immer mit Übungen zur Impulskontrolle verbunden werden“, rät Nitzschner. "Man sollte den Hund nicht einfach nur hinterherhetzen lasse, sondern eine Art 'Notbremse' einbauen." Sonst könne das Verhalten in eine unkontrollierbare Reaktion umschlagen. Nicht nur Ibrahim K. und Silja W. waren sich darüber offenbar nicht im Klaren.

"Es passiert nach wie vor zu viel, weil einzelne Halterinnen und Halter zu nachlässig sind“, sagt Nitzschner. Statt einzelne Rassen unter generellen Beißverdacht zu stellen, hält sie eine individuelle Beurteilung für sinnvoller – für beide Enden der Leine.

Abkehr von der "Rasseliste“

In einigen Bundesländern findet mittlerweile ein Umdenken statt. Nach Niedersachsen, Thüringen und Schleswig-Holstein hat sich im vergangenen Jahr auch Brandenburg von der "Rasseliste“ verabschiedet. Für gefährliche Hunde gelten weiterhin strenge Bestimmungen – entscheidend ist aber das Verhalten des jeweiligen Tieres, nicht mehr die Rasse.

Wird ein Hund gegenüber Tieren oder Menschen auffällig, gelten weiter strenge Vorgaben, von behördlicher Genehmigung über Maulkorbpflicht bis zum Sachkundenachweis. Dafür müssen Halterinnen und Halter auch ihre Zuverlässigkeit unter Beweis stellen. Wer Straftaten begangen hat, gilt demnach nicht als zuverlässig.

Nach diesen Kriterien hätte Ibrahim K. seinen Hund Zeus bereits nach der ersten Attacke abgeben müssen: Bei der Hamburger Polizei waren bis zum Zeitpunkt der Tragödie laut "Hamburger Abendblatt“ 18 Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig, darunter Raub, räuberische Erpressung und Körperverletzung.

Hundeführerschein für alle?

Kritiker bemängeln jedoch, dass in Brandenburg kein verpflichtender "Hundeführerschein" für alle eingeführt wurde. Es muss erst etwas passieren, bevor all die Mechanismen greifen. Niedersachsen geht einen anderen Weg: Dort müssen seit 2013 alle Hundehalterinnen und -halter ihre Sachkunde in einer theoretischen und einer praktischen Prüfung unter Beweis stellen, wobei der theoretische Teil noch vor der Anschaffung des Hundes absolviert werden muss. Auch in Berlin soll die Rasseliste durch einen Hundeführerschein für alle ersetzt werden.

"Rasselisten sind kein sinnvolles Instrument, um Beißvorfälle zu verhindern. Daher muss man auch nicht daran festhalten", sagt Nitzschner. Die flächendeckende Einführung eines Hundeführerscheins in Deutschland sei grundsätzlich eine gute Idee. "Aber es kommt wie immer auf die Umsetzung an – und falls es zu Restriktionen kommt, müssen diese auch überprüft werden."

Auch im Fall Volkan hätte eine Kontrolle der auferlegten Maulkorb- und Leinenpflicht die Tragödie verhindern können. Auch wenn es die Hunde waren, die den Jungen zu Tode bissen: Am Ende war es menschliches Versagen, das dieses Unglück überhaupt möglich machte.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Dr. Marie Nitzschner ist promovierte Verhaltensbiologin und hat zehn Jahre am Max-Planck-Institut in Leipzig über die kognitiven Fähigkeiten von Hunden geforscht. Sie ist Mitbegründerin von KynoLogisch und gibt als freischaffende Dozentin Vorträge und Seminare zu verschiedenen hundewissenschaftlichen Themen. Auf ihrem Instagram-Account @Hund.und.Wissenschaft teilt sie wissenschaftlich fundiertes Wissen über Hunde und entlarvt populäre Mythen.

Verwendete Quellen: