Der einflussreiche Justizbeamte Christian Pilnacek wird tot in einem Donauarm gefunden – offiziell handelt es sich um Suizid. Doch fast zwei Jahre später mehren sich Zweifel: Neue Gutachten, Spuren auf seiner Smartwatch und Versäumnisse der Ermittler werfen Fragen auf, die bis in die höchsten politischen Kreise reichen.

Es sind die Morgenstunden des 20. Oktober 2023, als ein Baggerfahrer in einem Seitenarm der Donau nahe der österreichischen Marktgemeinde Rossatz eine Leiche im Wasser entdeckt. Bei dem Toten handelt es sich um Christian Pilnacek, einen Spitzenbeamten mit engen Verbindungen in die Politik, der lange Zeit als mächtigster Mann im österreichischen Justizministerium galt. Für die Ermittler ist der Fall schnell klar: Der 60-Jährige hat sich das Leben genommen.

Auf den ersten Blick erscheint die Folgerung schlüssig. Pilnacek gerät am Vorabend alkoholisiert als Geisterfahrer in eine Polizeikontrolle. Der Einzug des Führerscheins ist da noch das kleinste Übel: Der bereits wegen vermeintlichen Verrats von Dienstgeheimnissen suspendierte Spitzenbeamte droht, seinen hochrangigen Job endgültig zu verlieren, und sein Ruf könnte unwiderruflich beschädigt sein. Und dennoch: Die Zweifel, dass Pilnacek wirklich Suizid begangen hat, wachsen in den vergangenen Wochen und Monaten – fast zwei Jahre nach seinem Tod.

Christian Pilnaceks Verbindungen in die Politik

Um die politische und mediale Tragweite dieses Todes zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Vita von Christian Pilnacek. Der gebürtige Wiener steigt über Jahrzehnte in den Reihen der Justiz auf und wird schließlich Chef der Sektion V im österreichischen Justizministerium. In dieser Position hat Pilnacek Zugang zu den sensibelsten Akten des Landes. Besonders zur ÖVP soll er enge Verbindungen pflegen und berät den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz im Rahmen des Ibiza-Untersuchungsausschusses. Dass Pilnacek derart exzellent vernetzt ist, liefert seit Jahren Nährboden für Spekulationen über sein Ableben.

Peter Pilz, Ex-Politiker der Grünen, hegt bereits seit längerem Zweifel daran, dass Pilnacek freiwillig aus dem Leben schied. Er recherchiert monatelang und erhält Einsicht in die Ermittlungsakten. In seinem im Februar 2025 erschienenen Buch "Pilnacek – Der Tod des Sektionschefs" stellt er die brisante These auf, dass Pilnacek ermordet wurde und die wahren Todesumstände von einer "türkisen Polizeikette" (türkis ist die Farbe der ÖVP) vertuscht wurden. Aufgrund dieser Vorwürfe muss sich Pilz selbst vor Gericht verantworten. Mehrere ranghohe Beamte, darunter Bundespolizeidirektor Michael Takacs, fühlen sich durch seine Aussagen diffamiert und verlangen die Einziehung des Buches.

Ermittlungsarbeit in der Kritik

Pilz trifft zweifellos einen wunden Punkt, denn die Arbeit der Ermittler sorgt für erhebliche Kontroversen. Sowohl die Staatsanwaltschaft Krems als auch das niederösterreichische Landeskriminalamt (LKA) geraten für ihr Vorgehen massiv in die Kritik. Nach dem Fund der Leiche gehen die Ermittler umgehend von einem Freitod Pilnaceks aus. Susanne Waidacker, Leiterin der Staatsanwaltschaft Krems, schreibt in einem Schriftsatz an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), dass die unter Alkoholeinfluss stattgefundene Geisterfahrt "zweifellos das Motiv für den Suizid war". Eine Annahme, womöglich vorschnell getroffen, die ergebnisoffene Ermittlungen verhindert?

Stefan Pfandler, Leiter des niederösterreichischen Landeskriminalamts, verteidigt das Vorgehen der Beamten in der Causa Pilnacek im Juli in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Standard". "Die Leiche wird sehr, sehr genau mit der Ärztin begutachtet. Man schaut sich die Kleidung an, sucht nach Verletzungen. Da hat es nichts gegeben, was auf Fremdeinwirkung hindeutet", sagt er. "Wir haben die Spuren am Einstiegspunkt gefunden. Fußspuren, die zielgerichtet in das Wasser hineinführen. Dazu kommt, dass er persönliche Gegenstände im Haus gelassen hat. Das ist ein Vorgang, der uns bei Suiziden nicht fremd ist als erfahrenen Kriminalisten. Trotzdem haben wir gesagt, wir wollen eine Obduktion, um Zweifel auszuschließen."

Pilnaceks Smartphone wurde zerstört

Doch warum gibt das LKA Pilnaceks Smartphone noch am Todestag an den Anwalt von Caroline List, der Witwe des Toten, ohne die Daten zu sichern? Eine Gerichtspräsidentin aus Graz, die das Handy nur wenige Tage später mit einem Bunsenbrenner vernichtet – aus Kummer, wie sie angibt. "Meine Kollegen haben nach dem damaligen Kenntnisstand korrekt gehandelt", verteidigt Pfandler die Vorgehensweise. "Ich brauche zu dem Zeitpunkt, wo ich es mitnehmen will, eine Begründung. Wenn ich die nicht habe, weil alle Ermittlungsergebnisse bis dahin nicht für ein Tötungsdelikt sprechen, dann kann ich das Handy nicht 'auf Vorrat' sicherstellen. Deswegen haben sich die Kollegen auch entschieden – so wie es in vielen anderen Fällen in der polizeilichen Praxis auch üblich ist –, diese Gegenstände dem nächsten Angehörigen auszufolgen."

Die WKStA ermittelt zwar wegen der vorschnellen Weitergabe von Pilnaceks Smartphone, sogar wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch, stellt jedoch keinen Vorsatz fest. Klar ist nur: Die Daten des politisch eng vernetzten Spitzenbeamten hätten höchst brisant sein können. Und: Wären Ermittlungen wegen Mordes eingeleitet worden, wären Handy, E-Mails und weitere Datenträger detailliert ausgewertet worden.

Smartwatch im Fokus

Fabian Schmid, Leitender Redakteur Investigativ beim "Standard", benennt in einem Artikel vom 5. September die fünf größten Fehler im Fall Pilnacek, darunter gravierende Versäumnisse der Staatsanwaltschaft Krems bei der Auswertung der IT-Geräte. Im August widmete er sich in einem Artikel Pilnaceks Smartwatch, die laut Abschlussbericht von Chefermittler Hannes Fellner "keine für das gegenständliche Ermittlungsverfahren relevanten Daten" enthielt. Ein vor Kurzem publik gewordener WKStA-Bericht widerspricht jedoch: Ein IT-Experte hat mehrere Auffälligkeiten in Bezug auf die Uhr entdeckt. Demnach seien "offenbar viele Daten in Datenbanken vorhanden, welche dazu dienen können, die letzten Stunden des Mag. Pilnacek genauer zu erörtern", heißt es dort. Es handle sich dabei "offensichtlich [um] Herz-, Handgelenksbewegungs- und sonstige Events".

In einer Podcast-Folge von "Inside Austria" spricht Schmid über den Fall und dessen neue Entwicklungen. Nachdem die Polizei Pilnacek alkoholisiert als Geisterfahrer am Steuer erwischt, lässt er sich von Anna P., einer Mitbewohnerin seiner Lebensgefährtin Karin Wurm, abholen. Pilnacek befindet sich zunächst in der Wohnung der beiden. Gegen 0.55 Uhr, so lässt sich anhand einer Synchronisation zwischen Smartwatch und Smartphone rekonstruieren, verlässt er die Wohnung wieder – ohne Schlüssel, ohne Portemonnaie, ohne Handy.

Was von den Ermittlern angenommen wird: Pilnacek geht den rund einen Kilometer langen Weg zum Donauarm, verbringt Zeit am Ufer, raucht einige Zigaretten – nachweisbar anhand einer gefundenen Zigarettenschachtel – und nimmt sich dort das Leben. Er stirbt gegen 4 Uhr morgens. Doch ist es wirklich so gewesen?

Liefern Daten neue Hinweise?

Im Bericht der WKStA ist Schmid zufolge von sogenannten Low-Energy-Events im Bluetooth-Bereich die Rede. Sie entstehen, wenn sich andere Bluetooth-Geräte in der Nähe befinden, ohne dass eine aktive Synchronisation oder Datenübertragung erfolgt. Unklar bleibt aus dem Bericht, um welche Geräte es sich konkret handelt. Möglicherweise sind es vorbeifahrende Autos, Fernseher oder andere Alltagsgeräte in der Umgebung. Auch könnten die Daten der Uhr, die längere Zeit im Wasser war, fehlerhaft sein. Womöglich gab es aber auch Kontakt mit anderen Personen.

Auffällig ist, dass zwischen 3.21 Uhr und 3.55 Uhr erneut rund drei Minuten lang Daten empfangen worden sind. Sind diese korrekt, deutet dies darauf hin, dass sich ein Gerät in der Nähe befand, mit dem die Smartwatch kommunizierte. War die Uhr – und damit auch ihr Träger – wieder in der Nähe des zugehörigen Smartphones, das sich in der Wohnung von Pilnaceks Lebensgefährtin befand?

Doch was würde das bedeuten? Stieg Pilnacek etwa nach dem Verlassen der Wohnung in ein Auto und kehrte Stunden später zurück? Lief er selbst umher? Ging er später selbstständig zur Donau – oder wurde er dorthin gebracht? Vieles bleibt unklar.

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Externes Gutachten entkräftet Suizid-These

Unabhängig von diesen Fragen wird am 11. September ein externes Gutachten des renommierten deutschen Gerichtsmediziners Prof. Dr. Michael Tsokos öffentlich. Darin heißt es unter anderem: Die "für ein Ertrinken typischen Befunde fehlen fast gänzlich". Wieso es im offiziellen Gutachten heißt, es gebe keine eindeutigen Hinweise auf eine Gewalteinwirkung, sei "nicht nachzuvollziehen". Tsokos war im vergangenen Jahr vom Anwalt von Pilnaceks Lebensgefährtin Karin Wurm mit dem Gutachten beauftragt worden. Veröffentlicht wird es auf "ZackZack", einem Online-Medium, das von Peter Pilz gegründet wurde.

Tsokos zieht auf Basis der im Obduktionsgutachten festgehaltenen Verletzungen und Werte andere Schlussfolgerungen. Er spricht von "möglichen Abwehrverletzungen" an den Armen sowie von Kopfverletzungen, die "als Folge stumpfer äußerer Gewalt, sehr wahrscheinlich durch Schläge, zu interpretieren" seien. Der ehemalige Leiter der Rechtsmedizin an der Berliner Charité fragt: "Könnte nicht doch ein Kampf am Ufer, verbunden mit Flucht des Christian Pilnacek am Ufer und anschließendem Hineinspringen (zur Selbstrettung), Hineinfallen (aufgrund der Dunkelheit und widrigen örtlichen Gegebenheiten am Ufer) oder Hineingestoßen werden für die Vielzahl von Verletzungen ursächlich sein?" Dies könnte zugleich erklären, warum Pilnacek in dem doch recht seichten Gewässer des Donauarms ertrunken ist.

Fast zwei Jahre nach dem rätselhaften Tod von Christian Pilnacek haben nun Ermittler in Eisenstadt, der Landeshauptstadt des Burgenlands, den Fall übernommen. Gleichzeitig steht er kurz davor, Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu werden, den die FPÖ am 24. September im Nationalrat beantragen will. Bereits Ende November könnten die ersten Befragungen beginnen, um vielleicht endgültig Licht in die unklaren Todesumstände des Sektionschefs zu bringen.

Hilfsangebote

  • Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Verwendete Quellen