Die Kommissionspräsidentin musste sich am Donnerstag einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament stellen. Kritik kam von links und von Rechtsaußen, aber auch von Verbündeten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am Donnerstag wurde über einen Misstrauensantrag gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament abgestimmt. Am Ende stimmten lediglich 175 der anwesenden 553 Abgeordneten für eine Enthebung von der Leyens, darunter auch die Abgeordneten des Bündnis Sahra Wagenknecht.

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360 Parlamentarier lehnten den Antrag ab, 18 enthielten sich. Insgesamt stimmten 553 der derzeit 719 Parlamentarier ab. Die Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen – ohne Enthaltungen, also mindestens 360 –, die für eine Absetzung der Kommission nötig gewesen wäre, kam demnach nicht zustande.

Der Vorstoß für das Misstrauensvotum kam aus dem rechten Lager. Bereits am Montag hatte es eine Aussprache im Parlament gegeben, bei der neben Rechtspopulisten auch Politiker der Linken, Grünen und Liberalen der Kommissionspräsidentin schwere Vorwürfe gemacht hatten. Insbesondere die Corona-Maßnahmen und die Zusammenarbeit der Kommissionspräsidentin mit rechten Kräften im Parlament waren Thema.

Unsere Redaktion hat die wichtigsten Fragen zum Misstrauensvotum zusammengetragen und mithilfe des Politikwissenschaftlers Jakob Lempp von der Hochschule Rhein-Waal eingeordnet.

Belastet ein Misstrauensantrag die europäische Demokratie?

Ein Misstrauensvotum gegen die EU-Kommission ist äußerst selten. 2014 fand zuletzt eines gegen den damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker statt. Das letzte Mal, dass ein Kommissionspräsident in Folge eines Votums zurücktreten musste, war im Jahr 1999. Damals war der Antrag zwar nicht erfolgreich, aber der Druck wurde dadurch so groß, dass sich Präsident Jacques Santer letztlich gezwungen sah zurückzutreten.

Eine Belastung für die europäische Demokratie sieht Politikwissenschaftler Jakob Lempp durch das nun gescheiterte Votum nicht: "Die Möglichkeit eines Misstrauensvotums gibt es in allen parlamentarischen Regierungssystemen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht werden würde, ging gegen Null." Das sei bei den aktuellen Mehrheiten im Europäischen Parlament einfach unrealistisch, so Lempp. "Insofern ist das weniger eine dramatische Zuspitzung als ein Ausdruck parlamentarischer Kontrolle."

Ist der Antrag ein Zeichen der neuen Macht von Rechtsaußen?

Der Antrag kam vom rumänischen Abgeordneten Gheroghe Piperea, der Mitglied der rechtsextremen Partei Allianz für die Vereinigung der Rumänen von George Simion ist. Unterstützt wurde er unter anderem von Abgeordneten des Rassemblement National von Marine Le Pen sowie den 15 deutschen AfD-Abgeordneten im Europaparlament. Beide Parteien stehen für einen europakritischen Kurs.

Die Zahl der Mandate rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien ist nach der EU-Wahl 2024 deutlich angestiegen. "Seither prägen europafeindliche Abgeordnete den Alltag in Brüssel und Straßburg noch stärker als zuvor", sagt Politikwissenschaftler Jakob Lempp.

Der aktuelle Misstrauensantrag sei der Versuch, Ursula von der Leyen und die Kommission in die Defensive zu drängen und das europäische Projekt insgesamt durch Korruptionsvorwürfe zu diskreditieren. Der Politikwissenschaftler sieht in dem Antrag daher durchaus eine gestiegene Einflussnahme von Rechtsaußen.

Wackelt die pro-europäische Koalition auf EU-Ebene?

Eigentlich gibt es eine stille Übereinkunft von Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, die Politik der Kommission gemeinsam zu tragen. Allerdings bröckelt diese "Koalition der Vernunft".

Die SPD-Politikerin und stellvertretende Parlamentspräsidentin Katarina Barley hatte von der Leyen zuletzt scharf attackiert und dem "Spiegel" gesagt: "Mit ihrer Öffnung nach rechts außen legt die EVP (Europäische Volkspartei, Anm. d. Red.) selbst die Axt an die Mehrheit, die ihre Kommissionspräsidentin trägt."

Barleys Kritik ist ein Indikator dafür, dass selbst innerhalb der informellen Mehrheit Unmut über von der Leyens Kurs herrscht, insbesondere über ihre Öffnung nach rechts. Das Arrangement der "Koalition der Vernunft" ist nicht institutionell abgesichert, sondern basiert auf politischen Verständigungen.

Wenn der Eindruck entsteht, dass von der Leyen die extremere Rechte ins Boot holt, könnten Sozialdemokraten und Liberale tatsächlich abspringen, zumindest in Einzelentscheidungen. "Das bedeutet für von der Leyen, dass sie in Zukunft noch stärker auf die Meinungen von Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Konservativen eingehen muss, um ihre Macht zu sichern", sagt Politikwissenschaftler Lempp.

Welche Rolle spielt Giorgia Meloni?

Mit ihrer Kritik, die EU-Kommission würde Politik mit Rechtsaußen machen, meint SPD-Politikerin Barley vor allem die Zusammenarbeit mit Giorgia Meloni. Die italienische Regierungschefin und ihre postfaschistische Partei Fratelli d'Italia gehören zur EKR-Fraktion, die sich beim Misstrauensvotum gespalten zeigte. Während etwa die polnische PiS für das Misstrauensvotum stimmten, distanzierten sich Melonis Leute von dem Versuch, von der Leyen zu stürzen. Sie stimmten laut Protokoll gar nicht ab.

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Meloni gilt als Verbündete von der Leyens. Oftmals übernimmt sie eine Vermittlerinnenrolle zwischen pro-europäischen konservativen Kräften und den euroskeptischen Mitgliedern der EKR-Fraktion.

"Von der Leyen ist in den letzten zwei Jahren ein Zweckbündnis mit Meloni eingegangen. Sie versucht den fragilen Spagat, auf der einen Seite die Verbindung mit den pro-europäischen Kräften nicht zu gefährden und auf der anderen Seite Partnerinnen wie Meloni nicht nachhaltig vor den Kopf zu stoßen", analysiert Jakob Lempp.

Genau das wurde ihr nun aber von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen vorgeworfen. Ob die Kommissionspräsidentin diesen Spagat also einfach so weiterführen kann, ohne die anderen Parteien der Mitte zu vergraulen, ist fraglich.

Welche Konsequenzen könnte Ursula von der Leyen aus der Abstimmung ziehen?

Nach Angaben des SPD-Politikers René Repasi hatte von der Leyen vor der Abstimmung Zugeständnisse an die Fraktionen in Aussicht gestellt. Demnach sicherte sie den Sozialdemokraten zu, im nächsten langfristigen EU-Haushalt Geld für den sogenannten Europäischen Sozialfonds (ESF) bereitzuhalten.

Die Grünen hatten der Kommissionspräsidentin geschlossen das Vertrauen ausgesprochen und gegen den Antrag gestimmt. Allerdings erwarten sie dafür ebenfalls Entgegenkommen, wie Terry Reintke, Co-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, klarmachte. "Unsere Unterstützung der Kommissionspräsidentin gibt es nicht zum Nulltarif. Die Rückabwicklung des Green Deal unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus muss aufhören", teilte sie am Donnerstag via Pressemitteilung mit.

Die Kommissionspräsidentin muss sich nun als Vermittlerin einsetzen. "Von der Leyen sollte ihre Initiativen noch stärker mit dem Parlament abstimmen. Dabei sollte sie sich vor allem auf die Fraktionen verlassen, die sie auch ins Amt gebracht haben", sagt Jakob Lempp.

Das dürfte aufgrund der Machtverhältnisse im Parlament und den großen Krisen und Herausforderungen, die der EU auch in Hinblick auf die Verhandlungen mit Donald Trump bevorstehen, allerdings nicht leicht werden.

Über den Gesprächspartner

  • Jakob Lempp ist Politologe mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Er ist Professor an der Hochschule Rhein-Waal.

Verwendete Quellen