Trotz Skandalen und populistischen Sprüchen könnte Ex-Regierungschef Babiš in Tschechien erneut Premierminister werden. Das Land könnte in eine autokratische Richtung rutschen wie Ungarn. Droht sogar ein Austritt aus Nato und EU?
Vor den Parlamentswahlen am 3. Oktober führt Ex-Premier Andrej Babiš wieder in den Umfragen. Kritiker fürchten, bei einem erneuten Wahlsieg des populistischen Unternehmers könnte Tschechien sich in eine Autokratie wie Ungarn verwandeln, aus Nato und EU austreten, Munitionslieferungen für die Ukraine stoppen.
Das Land steht am Scheideweg: Darf die EU-freundliche, aber unpopuläre Regierungskoalition um Petr Fiala weiterregieren – oder wird Andrej Babiš wieder Ministerpräsident? Der 71 Jahre alte Milliardär, zweitreichster Tscheche mit seinem Großkonzern Agrofert, regierte im Nachbarland bereits von 2017 bis 2021 mit seiner populistischen Partei ANO. Der Politikexperte Martin Vokálek erklärt, welche Sorgen begründet sind und welche nicht, von wem die Regierungsbildung in Prag abhängt, wer sie stoppen könnte, wie robust die Zivilgesellschaft noch ist und wie sich Deutschland und die EU positionieren sollten.
Herr Vokálek, bei den Parlamentswahlen in Tschechien am 3. Oktober könnte Andrej Babiš erneut Premierminister werden. Wo würden Sie ihn für deutsche Leser politisch einordnen?
Martin Vokálek: Er ist eine prägende, schwer einzuordnende Figur der tschechischen Politik. Er inszeniert sich oft als erfolgreicher Unternehmer, aber ist weniger erratisch als
"Babiš gibt sich als Manager, der das Land wie ein Unternehmen führen könne."
Warum steht der umstrittene Unternehmer vor der Rückkehr zur Macht?
Babiš gibt sich als Manager, der das Land wie ein Unternehmen führen könne. Er nutzt markante Slogans, Medienpräsenz, die Rolle großer Firmen, wie seiner eigenen, und soziale Medien, um Wähler direkt zu erreichen. Seine Anhänger werten Skandale oft als politisch von der Gegenseite motiviert.
Wie stehen die Chancen, dass seine Partei ANO gewinnt und er wieder Ministerpräsident wird?
ANO führt in allen Umfragen, aber keine Partei erzielt eine klare Mehrheit. Babiš hat also gute Chancen, wieder an die Macht zu kommen – allerdings über eine Koalition oder andere Modelle. Eine Alleinregierung ist unwahrscheinlich, eine Minderheitsregierung wäre möglich, aber fragil.
Zumindest denkbar auch, dass Babiš auf ein Amt verzichtet und aus dem Hintergrund die Fäden zieht.
Welche Rolle spielt Präsident Petr Pavel bei der Regierungsbildung?
Der Präsident kann die Regierungsbildung verzögern. Wenn sich keine tragfähige Mehrheit findet, kann das zu Stillstand oder Neuwahlen führen. Er hat bereits erklärt, dass er Probleme hätte, jemandem zu ernennen, der die Ausrichtung zur EU oder Nato infrage stellt.
Würde Babiš denn die EU- und Nato-Mitgliedschaft infrage stellen, wie viele befürchten?
Ein radikaler Bruch ist unwahrscheinlich. Babiš’ eigene Geschäftsinteressen sowie die Verflechtung der tschechischen Wirtschaft machen einen Austritt unattraktiv. Seine Rhetorik könnte jedoch EU-kritischer werden. Er könnte zudem Koalitionspartner brauchen, die offen gegen Tschechiens Mitgliedschaft in Nato und EU sind.
"Kleine Parteien könnten zu Königsmachern werden."
Welche kleineren Parteien könnten entscheidend werden?
Kleine Parteien könnten zu Königsmachern werden. ANO wird wahrscheinlich von einer Koalition mit einigen kleineren Partnern oder zumindest von deren Duldung abhängig sein. Partnerschaften mit extremen Gruppen wie der tschechischen SPD, die am rechten Rand steht, oder Stačilo! (Genug!), der informellen Koalition rund um die Kommunistische Partei, wären problematisch.
Wie könnte sich die Hilfe für die Ukraine verändern? Seit seiner Munitionsinitiative 2024 zählt Tschechien zu den größten europäischen Lieferanten von Munition an das Kriegsland.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass tschechische Militärhilfe und Waffenlieferungen unter einer ANO-dominierten Regierung zurückgehen. Die Munitionsinitiative könnte kurzzeitig leiden; andere Staaten könnten Teile der Lücke füllen. In Tschechien gibt es innenpolitische Forderungen nach einem "Frieden". Wirtschaftliche Interessen erhöhen den Druck, Militärexporte zu reduzieren.
Besteht die Gefahr pro-russischer Außenpolitik, ähnlich wie in der Slowakei oder Ungarn?
Nur eine Minderheit in der Bevölkerung befürwortet eine deutliche Annäherung an Russland; Babiš hat keine pro-russische Agenda, aber übernimmt bisweilen Putins Narrative. Anti-Establishment-Rhetorik und EU-Skepsis könnten in einer Koalition mit russlandfreundlichen Kräften zunehmen.
Wie beeinflusst die Präsenz ukrainischer Geflüchteter die Stimmung im Land?
Obwohl viele Geflüchtete ökonomisch beitragen, verstärkt ihre Präsenz in Teilen der Bevölkerung das Gefühl wirtschaftlicher Unsicherheit. Diese Stimmungen werden politisch instrumentalisiert.
Ist die Gesellschaft stark polarisiert?
Die Wähler sind fragmentiert und volatiler als früher. Tendenziell gibt es auch viele Ausnahmen; die Wahlentscheidungen sind oft persönlichkeits- und themengetrieben und fallen erst im letzten Moment vor den Wahlen.
"Wahlprogramme allein reichen selten; Vertrauen und Wahrnehmbarkeit sind entscheidender."
Was können die aktuelle Koalition von Ministerpräsident Petr Fiala oder andere Parteien der Mitte noch tun, um trotz Skandalen und Unzufriedenheit Wähler für sich zu mobilisieren?
Konkrete, verständliche Lösungen für Alltagsthemen liefern wie Kosten, Gesundheit oder Wohnen, eine emotionale Ansprache, klare Führungspersönlichkeiten und starke Präsenz vor Ort. Wahlprogramme allein reichen selten; Vertrauen und Wahrnehmbarkeit sind entscheidender.
Drohen Tschechien andernfalls autoritäre Zentralisierung oder Repression wie in Ungarn?
Das ist möglich, aber nicht zwangsläufig. Die tschechische Zivilgesellschaft und Institutionen sind robuster als in manchen Nachbarstaaten. Dennoch wären Maßnahmen wie Medienkontrolle oder Stigmatisierung von NGOs möglich, abhängig von Koalitionspartnern und Parlamentsmehrheiten.
Welche Handlungsspielräume hat der Westen, um einen weiteren EU-Kritiker zu verhindern?
Empfehlungen der Redaktion
Direkte Einmischung wäre riskant. Effektiver wären klare Erwartungen zur NATO- und Ukraine-Unterstützung zu formulieren, bilaterale Dialoge zu führen, wirtschaftliche Anreize zu setzen. Man sollte kooperieren, solange die Regierung rote Linien achtet, sie auch transparent kommunizieren.
Über den Gesprächspartner
- Martin Vokálek ist Geschäftsführender Direktor und Leiter des Brüsseler Büros von EUROPEUM, einem Institut für Europäische Politik im Prag. Er ist Experte für Politik- und Wirtschaftsforschung. EUROPEUM versteht sich als unabhängigen Think-Tank mit Fokus auf europäische Integration und demokratische Resilienz.
Verwendete Quellen
- Südwest Presse: Der Milliardär und ehemalige Präsidentschaftskandidat im Porträt
- Radio Prague International: Parlamentswahlen 2025: Tschechen wünschen sich laut Umfrage Einparteienregierung von Ano