In einem äußerst engen Rennen sichert sich der Kandidat der PiS in Polen das Amt des Präsidenten. Für das Land, aber auch für Europa ist die Wahl von Karol Nawrocki eine Zäsur. Denn die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in Polen ist damit vom Tisch – und möglicherweise auch die amtierende Regierung.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Thomas Pillgruber sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Eine Chance für Europa" witterte der "Spiegel" nach den polnischen Parlamentswahlen 2023. Bei der "Zeit" zeigte man sich sogar noch optimistischer und titelte: "Der Populismus kann besiegt werden."

Mehr Politik-News

Denn damals verlor die nationalkonservative PiS-Partei die Regierungsmacht. Acht Jahre hatte sie zuvor das Land regiert. Jahre, die sie unter anderem genutzt hat, um staatliche Gelder für sich selbst zu missbrauchen, die öffentlich-rechtlichen Medien zu ihrem Sprachrohr umzubauen und den Rechtsstaat im Lande schwer zu beschädigen.

Den Ausgang der Parlamentswahlen, bei dem sich die liberalkonservative Bürgerkoalition von Premierminister Donald Tusk die Führung der neuen Regierung sicherte, sahen viele Beobachte deshalb als Beginn eines politischen Wandels. Als Symbol dafür, dass Populismus, selbst unter widrigsten Umständen, abgewählt werden kann.

Jetzt, rund eineinhalb Jahre nach diesen Parlamentswahlen, muss man zu einem weniger hoffnungsvollen Fazit kommen. Denn mit der Wahl von Karol Nawrocki zum nächsten Präsidenten ist dieses europäische Märchen an der Wirklichkeit zerschellt.

Reformen unter Nawrocki? Unwahrscheinlich

© dpa-infografik GmbH

Schon 2023 hatte diese Erzählung Risse. Zum einen, weil die PiS damals immer noch stärkste Kraft wurde. Nur: Für die absolute Mehrheit reichte es nicht mehr und Koalitionspartner konnte die Partei nicht finden. Zum anderen aber, weil sie auch nach dem Urnengang noch das höchste Amt im Staat hielt und der amtierende Präsidenten Andrzej Duda konsequent die Linie der PiS weiterverfolgte. Dass sich die Polinnen und Polen nun aber bewusst für einen Präsidenten entschieden, haben, der dem Reformkurs von Tusks Regierung diametral entgegensteht, hat sie jetzt vollständig implodieren lassen.

Dabei war es denkbar knapp. 50,9 Prozent der Stimmen holte Nawrocki bei der Stichwahl am Sonntag. Damit liegt der Historiker ohne politische Vorerfahrungen nicht einmal zwei Prozent vor seinem Gegner Rafal Trzaskowski, den Tusks Regierungskoalition ins Rennen geschickt hatte.

Doch es ist genug, um Trzaskowski seine zweite Niederlage bei einer Präsidentschaftswahl zuzufügen. Und vor allem ist es genug, um die Hoffnungen auf tiefgreifende Reformen in Polen zu begraben. Denn kaum jemand im Land zweifelt daran, dass Nawrocki den Kurs des bisherigen Präsidenten Andrzej Duda fortsetzen wird.

Der hatte bis zuletzt vor allem ein Ziel: Tusks Regierung zu blockieren, wo er nur kann. Und an Möglichkeiten dafür mangelte es Duda nicht. Der polnische Präsident kann gegen jedes Gesetz, das durch den Sejm – das polnische Parlament – geht, ein Veto einlegen. Das lässt sich zwar per Drei-Fünftel-Mehrheit überstimmen – doch über die verfügt die amtierende Regierung nicht.

Tusk in der Zwickmühle: Kommt es zu Neuwahlen?

Für Tusk wär ein Sieg seines Kandidaten Trzaskowski deswegen elementar gewesen. Bei den Wahlen 2023 war er mit dem Versprechen groß angelegter Reformen angetreten. Insbesondere die Rechtsstaatlichkeit im Land sollte wieder vollumfänglich hergestellt werden. Doch wegen Dudas Blockaden kommt die Regierung damit nicht voran und steht deshalb auch in der Bevölkerung unter Druck.

Mit Nawrockis Wahl dürfte die Enttäuschung über die ausbleibenden Reformen nur noch mehr wachsen. Einige politische Beobachter glauben deswegen, dass die Regierung nun vorgezogene Neuwahlen veranlassen könnte, um im Sejm eine Mehrheit zur Überstimmung des Präsidenten zu gewinnen.

Auch der CDU-Politiker und Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Paul Ziemiak, hält das für möglich. "Mir fehlt jetzt etwas die Fantasie, wie es jetzt weitergehen soll", sagte er im Deutschlandfunk. Schließlich werde Nawrockis erste Aufgabe sein, "der Regierung Schwierigkeiten zu machen".

Tusks Regierung steckt nach Nawrockis Wahlsieg in einer Zwickmühle. Wartet sie bis zu den nächsten regulären Sejm-Wahlen ab, geht der politische Stillstand im Land höchstwahrscheinlich weiter. Die Chancen auf einen Wahlsieg Tusks dürften so nicht steigen.

Gleichzeitig bergen Neuwahlen das Risiko, dass die PiS nach der Präsidentschaftswahl mit Rückenwind startet. Sollte sie gewinnen, würde sie für eine volle Amtsperiode den Präsidenten und die Regierung stellen. Ein harter Schlag für die Opposition.

Präsidentschaftswahl wird für die EU zum Dilemma

Aber selbst, wenn die PiS nicht die notwendigen Mehrheiten für eine stabile Regierung erringen würde, könnte sie die Neuwahlen ausnutzen. Denn wie schon sein Amtsvorgänger bei den vergangenen Wahlen im Jahr 2023 könnte Nawrocki einfach die Regierungsbildung über Monate hinauszögern. Die Folge wäre politische Instabilität im Land. Auch müsste das neue Kabinett nach einem verzögertem Start deutlich schneller Ergebnisse liefern.

So eine Unsicherheit wäre nicht nur für Polen ein Problem. Schließlich tobt der Krieg in der Ukraine weiter. Als einer der zentralen Unterstützer Kiews ist Polen auch für die europäische Ukrainepolitik unerlässlich. Ohnehin stellt Nawrockis Wahlsieg für Brüssel ein Dilemma dar.

Schließlich hatte die EU als Zeichen des Vertrauens den Rechtsstreit mit Warschau über die Justizreform beigelegt. Jahrelang musste Polen wegen der beschädigten Unabhängigkeit der Gerichte Strafen an die EU zahlen. Doch weil Tusk Reformen versprach, wollte man ihm diese Steine aus dem Weg räumen.

Einige sahen das schon immer kritisch. Denn faktisch hat sich an der Lage des Rechtsstaates in Polen seit dem Regierungswechsel kaum etwas geändert. Dass die EU Tusk trotzdem so zur Seite sprang und damit letztlich nichts erreichte, dürfte deshalb auch in Brüssel noch für Gesprächsstoff sorgen.

Wie die EU damit genau umgeht, ist noch unklar. Sicher ist hingegen: Die "Chance für Europa", die man im Herbst 2023 sah, ist ungenutzt geblieben.

Verwendete Quellen:

Teaserbild: © Getty Images/Sean Gallup