Der Sipri-Jahresbericht 2025 warnt vor einer alarmierenden Zunahme der nuklearen Rüstungen weltweit. Im Interview erklärt Friedensforscher Ulrich Kühn die Entwicklung und die Gefahren, die Rolle der großen Atommächte und der Rüstungskontrolle, die Folgen für die deutsche Sicherheit und was KI und Jugendliche mit Messern damit zu tun haben.

Ein Interview

Die Welt wird unsicherer: Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri warnt in seinem Jahresbericht 2025 vor einem neuen nuklearen Wettrüsten, da fast alle Atommächte ihre Arsenale erweitern.

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Sipri schätzt, dass weltweit über 9.000 Atomsprengköpfe für den potenziellen Einsatz bereitstehen. Die USA und Russland besitzen weiterhin etwa 90 Prozent der globalen Atomwaffen, während Chinas Arsenal auf 600 Sprengkörper angewachsen ist, Tendenz steigend.

Friedensforscher Ulrich Kühn von der Uni Hamburg erklärt, wie gefährlich die Lage wirklich ist.

Herr Kühn, laut neuestem Sipri-Bericht hat das weltweite atomare Wettrüsten eine neue Dynamik bekommen. Überrascht Sie das?

Ulrich Kühn: Das ist für mich nicht wirklich neu. Es ist eine Entwicklung, auf die wir seit vielen Jahren zusteuern. Die Welt wird unsicherer, und das Wettrüsten nimmt zu.

Woher kommt das? Man sieht ja, dass große Länder wie die USA und Russland sich in Atomfragen nicht mehr einig sind. Aber dass es weltweit zunimmt, überrascht doch schon?

Die Antwort ist komplex. Die USA sind nicht mehr die unumstrittene Nummer Eins, während China massiv aufrüstet. Die Beziehung zwischen den USA und Russland ist katastrophal, besonders nach den Ereignissen in der Ukraine. Diese Unsicherheiten führen dazu, dass Länder wie der Iran überlegen, ob Nuklearwaffen für sie vorteilhaft wären. Die Bedeutung von Nuklearwaffen hat zugenommen, während viele Rüstungskontrollverträge kollabieren. Wir erleben jetzt das erste Mal seit dem Kalten Krieg, dass die Dynamik sich umkehrt und die Anzahl der Nuklearwaffen wieder leicht steigt.

Ist das wirklich ein Zeichen dafür, dass die Welt unsicherer wird? Atomwaffen sind ja oft nur Abschreckung, so wie Jugendliche Messer tragen, weil sie vermuten, dass bald jeder eines hat.

Die Unsicherheiten haben global massiv zugenommen. Aber ja, es ist so, als ob jeder denkt: "Wenn die anderen ein Messer haben, brauche ich auch eines." Das ist eine gefährliche Denkweise.

"Die USA setzen zunehmend auf eigene Interessen, nicht mehr auf internationale Werte."

Friedensforscher Ulrich Kühn

Kommt man aus dieser Spirale heraus? Kann irgendjemand da einen Stoppknopf drücken?

Natürlich kann man damit aufhören. Aber es braucht eine Gruppe von Staaten, die bereit ist, den ersten Schritt zu machen. In der Vergangenheit war das oft der Westen. Doch die USA setzen zunehmend auf eigene Interessen, nicht mehr auf internationale Werte. Das ist ein gefährlicher Kurs.

Der Iran wollte offenbar Atomwaffen entwickeln und wird nun von Israel angegriffen, um das zu verhindern. Ist das Teil dieser Logik, dass man den atomaren Club klein halten möchte?

Der Iran ist ein Beispiel dafür, dass Staaten, die sich bedroht fühlen, erst recht versuchen, sich mit Nuklearwaffen abzusichern, damit man nicht so einfach angegriffen werden kann. Es ist ein Teufelskreis.

Manche Experten sagen: Hätte die Ukraine in den 90er-Jahren ihre Atomwaffen nicht abgegeben, hätte Russland sie nie angegriffen. Stimmt diese Logik?

Das ist eine verkürzte Sichtweise. Die Ukraine hatte nie die faktische Kontrolle über diese Waffen. Sie waren nur gelagert auf ihrem Gebiet.

"Die Zeiten, in denen man sich auf die Amerikaner verlassen konnte, sind vorbei."

Friedensforscher Ulrich Kühn

Wäre es sinnvoll, wenn Deutschland eigene Atomwaffen hätte oder enger mit Frankreich zusammenarbeitet?

Deutschland muss sich fragen, ob es in der aktuellen Sicherheitslage wirklich auf die USA vertrauen kann. Die Zeiten, in denen man sich auf die Amerikaner verlassen konnte, sind vorbei.

Wäre es neu, dass Deutschland auf Atomwaffen setzt, um seine Sicherheit zu gewährleisten?

Nein, seit 1954 lagern in Westdeutschland amerikanische Nuklearwaffen, unabhängig von der Regierungspartei. Deutsche Regierungen hielten nukleare Abschreckung also stets für nötig. Es wäre ein Novum, wenn Deutschland auf ein anderes Sicherheitsarrangement setzen würde, aber keine grundlegende Wende. Stattdessen werden wir wahrscheinlich Schritte hin zu einer erweiterten Abschreckung sehen, möglicherweise mit Unterstützung von Frankreich und Großbritannien.

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Die USA und Russland haben ein Vielfaches an Nuklearwaffen im Vergleich zu Europa. Bedeutet das, dass Europa massiv nachrüsten müsste?

Nicht unbedingt. Es geht nicht um die Anzahl der Waffen, sondern um die gesicherte Zweitschlagfähigkeit. Man muss in der Lage sein, auf einen Angriff zu reagieren und den Gegner entscheidend zu verletzen. Die französischen Nuklearwaffen könnten Russland erheblich schädigen, ohne dass Europa Tausende von Waffen benötigt.

Wäre Deutschland von Frankreich abhängig, wenn es dessen Atomwaffen nutzen würde?

Ja, das würde eine Abhängigkeit schaffen. Frankreich könnte an politischer und militärischer Macht gewinnen. Diese Abhängigkeit könnte problematisch werden, wenn etwa ein nationalistischer französischer Präsident beschließt, Europa nicht mehr zu schützen.

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz bei Atomwaffen? Es gibt Ängste, KI könnte in einer Fehlfunktion Knöpfe drücken.

KI wird nicht die Kontrolle über Nuklearwaffen übernehmen, aber sie wird bereits für militärische Zwecke eingesetzt, etwa zur Satellitenaufklärung. Bei der Entscheidungsfindung über den Einsatz von Nuklearwaffen sollte der Mensch jedoch immer die Hoheit behalten. Ich glaube, es gibt eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen den großen Nuklearmächten, dass KI in diesem Bereich keine Rolle spielen darf.

Keine Bewegung in Richtung Abrüstung

Machen Atomwaffen die Welt sicherer? Oder gibt es bald Proteste dagegen wie in den 80ern?

Das ist schwierig. Es gibt da zwei Ansichten: Die eine besagt, dass mehr Nuklearwaffen Stabilität bringen, als Abschreckung, die andere, dass die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes steigt, wenn man sie besitzt. Proteste gegen die Aufrüstung könnten wieder zunehmen, aber momentan sind die Menschen eher auf Verteidigung fokussiert.

Ist Aufrüstung, speziell atomare, nicht auch teuer und umweltschädlich?

Absolut. Deutschland muss jetzt viel Geld für Verteidigung ausgeben, was an anderen Stellen gespart werden muss. Das ist problematisch, besonders in Anbetracht eines löchrigen sozialen Netzes. Ich sehe momentan keine Bewegung in Richtung Abrüstung. Die Situation wird sich wahrscheinlich eher verschlechtern, bevor sie sich verbessert.

Über den Gesprächspartner

  • Ulrich Kühn ist ein deutscher Friedens- und Sicherheitsexperte, der am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) tätig ist. Er beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der Rüstungskontrolle, der nuklearen Sicherheit und der internationalen Sicherheitsarchitektur.

Verwendete Quellen