- Unter #IchBinArmutsbetroffen erzählen viele Menschen auf Twitter aus ihrem Alltag.
- Die meisten kommen aus Deutschland und Österreich, in beiden Ländern sind Protestaktionen vor Ort geplant.
- Der Hashtag war auch Thema im Bundestag.
"Nie zuvor waren mehr Rentnerinnen und Rentner in Deutschland auf Grundsicherung angewiesen", "Jedes fünfte Kind armutsgefährdet", "'Hartz-IV-Rente' nach 45 Jahren Arbeit in Vollzeit": Solche Schlagzeilen sind immer wieder in den Medien zu lesen. Oft geht es dabei um Statistik - Zahlen ohne Gesicht. Das Thema ist gesellschaftlich mit Scham behaftet, weshalb viele Betroffene in der Regel nur ungern darüber sprechen und zum Teil nicht einmal ihnen zustehende Leistungen beantragen.
"Die Angst vor Stigmatisierung hindert Menschen daran, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen", schrieb beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 2019 anlässlich einer entsprechenden Untersuchung. Beim Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, wird die Quote der sogenannten Nichtinanspruchnahme demnach auf 43 bis 56 Prozent geschätzt und bei der Grundsicherung im Alter sogar auf fast 60 Prozent. Laut des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gibt es in Deutschland mehr als 13 Millionen Armutsbetroffene, was gut 16 Prozent der Bevölkerung entspricht.
Viral auf Twitter: #IchBinArmutsbetroffen
Welche Auswirkungen das konkret auf den Alltag dieser Personen hat, liest man nicht oft. Das änderte sich Mitte Mai auf Twitter, wo seitdem viele Menschen unter dem Stichwort #IchBinArmutsbetroffen öffentlich aus ihrem Leben berichten. "Es ist traurig, dass es überhaupt so viele arme Menschen gibt, aber wunderschön, dass sie sich endlich rauswagen und darüber reden", sagt Daniela Brodesser von der Initiative "Ar-MUT", in deren Umfeld der Hashtag entstanden ist, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die Österreicherin organisiert unter anderem Workshops und Vorträge für Betroffene und Nichtbetroffene, vor allem in ihrem Heimatland - das gerade eine Arbeitsmarktreform plant - und in Deutschland. In Zusammenarbeit mit der "OneWorryLess Foundation" ("EineSorgeWeniger-Stiftung") sind in Anlehnung an den digitalen Erfolg des Hashtags auch Protestaktionen vor Ort in beiden Ländern geplant.
"Was es mit Armut auf sich hat, warum es kein individuelles Versagen ist, wie sehr Sprache beschämen und ausgrenzen kann (...) und vor allem – warum es so wichtig ist, unsere lange antrainierten Bilder über Armutsbetroffene zu hinterfragen ... das versuche ich euch näherzubringen", heißt es auf der Webseite der 2021 gestarteten Initiative. Vier Jahre zuvor fing Brodesser, damals selbst betroffen, auf Twitter an, über ihre Erfahrungen zu schreiben. "Entweder ich fange an, darüber zu reden oder ich resigniere komplett", beschreibt sie einen damaligen "Kippunkt" in ihrem Leben.
Über mehrere Jahre habe sie zuvor gemerkt, wie sehr man anfange, sich zurückzuziehen, "weil man die ganzen Vorurteile kennt und sich immer wieder rechtfertigen muss". Die Reaktionen auf Twitter gaben ihr eigenen Angaben zufolge Kraft, zeigten aber auch, dass viele Menschen bei dem Thema vorschnell Urteile fällen. Sie startete vor einigen Monaten deshalb eine Whatsapp-Gruppe für Betroffene als "Safe Space, wo keine Trolle und Beschämer hineinkommen und sie reden können, ohne niedergemacht zu werden". Dort kam einer Nutzerin die Idee zu dem Hashtag.
Betroffene äußern sich online - der Bundestag greift es auf
Etwas Ähnliches gab es auch Ende 2018: Damals war über einen Artikel in der Wochenzeitung "Der Freitag", geschrieben vom Journalisten Christian Baron, "#Unten" entstanden. Unter diesem Hashtag äußerten sich ebenfalls auf Twitter viele zu ähnlichen Punkten. Seitdem hat sich nicht viel verändert, vielmehr offenbarten die Auswirkungen der Corona-Pandemie in besonderem Maße die soziale Ungleichheit in Deutschland und verstärkten diese auch noch. Aktuelle Meldungen wie "Lebensmittel: Tafeln schlagen Alarm" oder "Wohlfahrtsverband: 30 Prozent der Studierenden sind arm" verdeutlichen dies.
Damals wie heute fand der jeweilige Hashtag seinen Weg in den Bundestag: Vor dreieinhalb Jahren erwähnte die damalige Linke-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht "#Unten" während einer Debatte, Mitte Mai wiederum las ihre Parteikollegin Janine Wissler Tweets zu "#IchBinArmutsbetroffen" vor. Einen Unterschied gibt es aber: Anders als im Koalitionsvertrag der damaligen Regierung aus SPD und CDU/CSU kommt in der Vereinbarung der Ampelparteien der Begriff "Hartz IV" vor - einmal. Und zwar in dem Zusammenhang, dass es durch ein sogenanntes Bürgergeld ersetzt werden soll, das "die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein" soll.
Bundesregierung plant Verbesserungen beim Thema Arbeitslosigkeit
Auf dem Papier haben sich Sozialdemokratie, Grüne und Liberale hier auf konkrete Verbesserungen verständigt. So sollen Jobcenter beispielsweise mehr Personal bekommen, um Langzeitarbeitslose in Form von Weiterbildungsmaßnahmen stärker unterstützen zu können. Zudem sollen in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs weder Vermögen noch Angemessenheit der Wohnung überprüft werden. Danach soll es höhere Grenzen geben für das sogenannte Schonvermögen, das man behalten darf. Außerdem ist vorgesehen, dass Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV mehr hinzuverdienen dürfen, ohne dass das auf ihre Leistungen angerechnet wird - bisher gilt das nur für maximal 100 Euro brutto.
Darüber hinaus ist als zentrale Maßnahme die Abschaffung des sogenannten Vermittlungsvorrangs geplant. Dieser besagt bisher, dass Erwerbslose vorzeitig aus Fortbildungen geholt werden können, wenn sich eine Arbeitsmöglichkeit ergibt - auch wenn sie nicht zur jeweiligen Person passt. Sozialverbände und Betroffene üben aber auch scharfe Kritik an den Plänen der neuen Bundesregierung, da sie beispielsweise keine Aussage zur Höhe des von Fachleuten als nachweislich zu niedrig betrachteten Regelsatzes enthalten. Aktuell beläuft sich dieser auf 449 Euro für Alleinstehende und Alleinerziehende, gefordert werden häufig mindestens 600.
Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen, Sanktionen werden größtenteils ausgesetzt
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte angesichts der zuletzt hohen Inflation in der vergangenen Woche im Deutschlandfunk zwar, Empfängerinnen und Empfänger der Grundsicherung sollen "auch deutlich kräftigere Leistungen bekommen, damit sie mit dieser Situation auch zurechtkommen können". Aber genauer wurde er bei seiner Ankündigung eines Gesetzentwurfs zum Bürgergeld, den er im Sommer vorlegen will, nicht. Zudem sagte Johannes Vogel, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, der "Rheinischen Post", die Höhe solle so bleiben, wie sie ist: "Im Koalitionsvertrag haben wir klar vereinbart, dass an den Regeln zur Festsetzung der Grundsicherung nicht gerüttelt wird."
In einem anderen Punkt konnten sich die Regierungsfraktionen im Bundestag vor Kurzem einigen: Die schon lange umstrittenen Sanktionen für Arbeitsuchende werden ein Jahr lang größtenteils ausgesetzt. Bei wiederholten Meldversäumnissen, also wenn Personen "ohne wichtigen Grund nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen", dürfen die Jobcenter die Leistung derzeit aber weiterhin um maximal zehn Prozent des jeweiligen Regelbedarfs mindern.
Bis zum 1. Juni 2023 soll dann im Rahmen des vorgesehenen Bürgergeld-Systems eine neue Regelung vorbereitet werden, wie es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 verlangt. Das Verfassungsgericht hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach zur Grundsicherung geäußert. Zuletzt gab es einem Mann aus Bayern recht, der sich mit einem Anwalt gegen einen Jobcenter-Bescheid wehren wollte. Zuvor hatte das zuständige Amtsgericht ihm eine kostenlose Rechtsberatung verweigert - zu Unrecht, entschied die Justiz.
"Armut kann fast jeden treffen"
Trotz solcher juristischer Erfolge in Einzelfällen bleibt der Alltag für Millionen von Menschen prekär und von Unsicherheit geprägt. "Ein Umdenken wird es schon deshalb geben müssen, weil Armut inzwischen in der Mittelschicht ankommt. Meine größte Sorge ist aber, dass man sich dann nur um diese Leute kümmert und nicht auch um die, die schon länger betroffen sind", sagt Daniela Brodesser von der Initiative "Ar-MUT".
Eine große Rolle spielen ihrer Meinung nach bestimmte Fernsehsender und Zeitungen, die teilweise davon leben würden, dass sie "Armutsbashing" betreiben: "Wenn große Medien wie die 'Kronen-Zeitung' in Österreich und die 'Bild' in Deutschland irgendwann mal anfangen, sensibel zu berichten und aufzuklären, dann schaffen wir das", beantwortet Brodesser die Frage, ob sie in absehbarer Zeit mit nachhaltigen Veränderungen rechnet.
Ihr zufolge wollen viele Leute bisher nicht umdenken, weil sie Angst hätten vor dem, was dann kommt: "Denn wenn die Menschen sich dessen bewusst werden, dass Armut fast jeden treffen kann, kann keiner mehr sagen: 'Ich bin fleißig, mir passiert das nie.'" Es geht laut Brodesser um strukturelle Probleme: "Würde zum Beispiel das Arbeitslosengeld erhöht werden, müssten auch die Gehälter in den Niedriglohnjobs steigen. Und würde es von politischer Seite ein Umdenken geben nach dem Motto 'Armut darf nicht sein', dürfte es keine Niedriglohnjobs mehr geben. Und dann hätten die ganzen Konzerne ein Problem."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Daniela Brodesser, Initiative "Ar-MUT"
- Bundesregierung.de: SGB II: Sanktionen werden ausgesetzt
- Bundesverfassungsgericht.de: Ablehnung von Beratungshilfe für sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig
- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Die Angst vor Stigmatisierung hindert Menschen daran, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen; Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf hohe verdeckte Altersarmut
- Statistisches Bundesamt, Bundeszentrale für politische Bildung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Sozioökonomisches Panel des DIW, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Datenreport 2021
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Schlagzeile "Nie zuvor waren mehr Rentnerinnen und Rentner in Deutschland auf Hartz IV angewiesen" zitiert. Richtig ist "auf Grundsicherung angewiesen", da Rentnerinnen und Renter kein Arbeitslosengeld II - also Hartz IV - erhalten, sondern die sogenannte Grundsicherung im Alter. Sie entspricht in ihrer Höhe dem Hartz-IV-Regelsatz von aktuell 449 Euro für Alleinstehende.
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