Tausende demonstrierten in Kiew. Der Vorwurf: "Verrat an der Revolution" von 2014. Dann knickt der Präsident ein. Mit einem Antikorruptionsgesetz wollte Wolodymyr Selenskyj russischen Einfluss stoppen und scheiterte. Osteuropa-Experte Andreas Umland ordnet ein.

Ein Interview

In der Ukraine haben Tausende gegen ein neues Gesetz protestiert, das zwei zentrale Antikorruptionsbehörden ihrer Unabhängigkeit berauben sollte. Das Parlament hatte die umstrittene Reform im Eiltempo beschlossen, Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnete sie noch am selben Abend. Die Reaktion folgte prompt: spontane Demonstrationen in mehreren Städten, scharfe Kritik aus der Zivilgesellschaft – und auch aus der EU.

Was aber bedeutet das Hin und Her für den Zustand der ukrainischen Demokratie? Welche Rolle spielen Sicherheitsbedenken oder parteipolitische Interessen? Darüber sprechen wir mit Andreas Umland. Der promovierte Politikwissenschaftler ist Analyst beim Stockholm Center for Eastern European Studies und Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums.

Herr Umland, SAP und NABU… Die Namen wecken hier in Deutschland andere Assoziationen als in der Ukraine. Was genau ist das?

Andreas Umland: NABU ist das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine und SAP ist die spezielle Staatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung. Das sind zwei neue Institutionen, die es so nur in wenigen anderen Ländern gibt. Das sind staatliche Spezialorgane, die geschaffen wurden nach 2014, zum Kampf gegen Korruption.

Revolution als Geburtsstunde neuer Antikorruptionsbehörden

2014, also nach den Maidan-Protesten und nachdem der prorussische Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt wurde. Können Sie mehr über die Geschichte dieser Behörden erzählen?

NABU ist quasi eine Antikorruptionspolizei, die Ermittlungen führt und die SAP beschäftigt sich mit der Anklage der Bestechungsfälle. Sie sind Teil eines größeren Institutionengefüges, das damals geschaffen wurde. Es gibt noch eine Agentur zur Verhinderung von Korruption, wo Staatsangestellte ihre Einkommen deklarieren müssen. Das ist eine präventive Institution. Und dann gibt es noch ein spezielles Antikorruptionsgericht. Diese vier Organe wurden nach dem Euromaidan zur Bekämpfung von Korruption geschaffen. Und sie sind sehr unabhängig. Außerdem, das muss man dazu sagen, sind sie quasi Institutionen für Friedenszeiten.

Wie meinen Sie das?

Diese Organe haben eine hohe Unabhängigkeit. In Kriegszeiten ist das in gewisser Hinsicht ein Problem, da es dann naturgemäß eine allgemeine Zentralisierung und sogenannte Securitisation vieler Fragen gibt. In der ersten Phase des russisch-ukrainischen Krieges von 2014 bis 2021 war diese Tendenz noch nicht so stark spürbar. Aber seit Beginn der vollumfänglichen Invasion hat sich vieles geändert.

Securitatition heißt seit 2022, dass es eine "Versicherheitlichung" des gesamten gesellschaftlichen Lebens gibt, vom Kulturbetrieb über die Massenmedien bis hin zu den Staatsorganen. Viele Selbstverständlichkeiten in Friedenszeiten wurden in den letzten dreieinhalb Jahren zum Luxus, obwohl bestimmte unabhängige Staatsorgane auch heute für die Ukraine wichtig sind.

Um diese Behörden gibt es derzeit massive Spannungen. Es gab ein Gesetz, das die Organe der Generalstaatsanwaltschaft unterordnete. Tausende demonstrierten dagegen. Jetzt gibt es ein neues Gesetz. Was hat es damit auf sich?

Nach den nationalen und internationalen Protesten gegen das neue NABU- und SAP-Gesetz gibt es nun einen neuen Gesetzesvorschlag Selenskyjs, der die Unabhängigkeit der beiden Organe wieder herstellt und ihre Unterstellung unter die Generalstaatsanwaltschaft zurücknimmt. Stattdessen soll es nun häufigere Überprüfungen der beiden Organe durch den Sicherheitsdienst geben.

Im Rückblick erscheint die ganze Affäre als unnötig und als politischer Fehler Selenskyjs sowie seiner Berater. Gleichzeitig hat die Ukraine ihre Demokratiefähigkeit und politische Freiheit auch in Kriegszeiten bewiesen. Vielleicht kann man das als eine Art Erfolg sehen.

Gefahr für die Unabhängigkeit der Ermittlungen

Was genau wollte das Gesetz, das jetzt wieder hinfällig ist?

Es ging hier in erster Linie darum, dass diese beiden Behörden der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt werden. Das widerspricht klar der ursprünglichen Idee, mit der diese Behörden 2015 geschaffen worden sind. Nämlich als Organe, die unabhängig von den Ministerien, der Generalstaatsanwaltschaft und vom Präsidialamt sind. Die Unabhängigkeit dieser Spezialbehörden war und ist wichtig für die Bekämpfung von Korruption.

"[...] Das neue Gesetz war natürlich eine Überreaktion."

Andreas Umland, Politikwissenschaftler

Warum wurde es überhaupt beschlossen?

Von Seiten der Regierung heißt es, dass die beiden Behörden unterwandert seien von russischen Agenten. Das kann auch teilweise stimmen, aber das neue Gesetz war natürlich eine Überreaktion.

Und welche Risiken brachte es mit sich?

Das Problem, das viele darin sahen, ist, dass es keine vollständig unabhängigen Organe mehr gibt, die Korruption verfolgen, sondern dass jetzt eben die beiden Spezialbehörden in die generelle staatliche Hierarchie eingegliedert und damit vom Präsidialamt abhängig sind.

Und dass damit die aktive Korruptionsbekämpfung am Ende nicht wirklich möglich ist, weil diese Behörden nur noch als Feigenblatt fungieren?

So drastisch würde ich das nicht sagen. NABU und SAP hätten eben nur nicht mehr ihre bisherige hohe Unabhängigkeit gehabt. Doch ist der allgemeine Kontext hier relevant, denn ähnliche Entwicklungen hat es in anderen Bereichen der Ukraine seit 2022 ebenfalls gegeben.

Welche?

Die lokale Selbstverwaltung ist beschnitten worden, die wichtigsten Fernsehsender sind vereinigt und unter staatliche Kontrolle gestellt worden und noch vieles mehr. Seit 2022 hat es eine generelle Zentralisierung gegeben – in Reaktion auf den eskalierenden Krieg. Begründung ist, dass man im Kriegszustand einen effektiven Zentralstaat, der durchregieren kann, benötigt und sich unabhängige Akteure nicht mehr leisten kann. Solche Zentralisierung von Macht ist etwas, was in den meisten Ländern passiert, die im Kriegszustand sind und wo das eigene Staatsgelände der Kriegsschauplatz ist.

Selenskyj reagiert auf Kritik und legt neues Gesetz vor

Nach den Protesten gegen ein umstrittenes Gesetz zur Arbeit von Antikorruptionsbehörden in der Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Bereitschaft zu Änderungen betont. Er legte dem Parlament ein neues Gesetz vor, das die Unabhängigkeit der Behörden sicherstellen soll.

Aber die Sorge ist doch begründet, dass diese Zentralisierung nach Kriegsende nicht mehr rückgängig gemacht wird...

Ja, diese Sorge gibt es, und das muss man dann neu erkämpfen. Einen ähnlichen Konflikt hat es etwa zwischen der Europäischen Union und dem Kulturministerium der Ukraine gegeben, als die vier wichtigsten Fernsehsender der Ukraine in einen vereinigt wurden, den sogenannten Telemarathon. Als die EU-Kommission das kritisiert hatte, war die Antwort des Kulturministers, dass man die Pluralität der Medienlandschaft für wichtig hält, aber erst nach Ende des Krieges wieder herstellen würde.

Auch interessant

Symbolischer Rückschritt – und politisches Eigentor?

Das Gesetz um NABU und SAP hatte große Proteste hervorgerufen. Selenskyj wird teilweise Verrat am Volk oder auch Verrat an der Unabhängigkeitsrevolution von 2014 vorgeworfen. Warum?

Die Schaffung dieser Organe war ein zentrales Resultat des Euromaidan-Aufstandes. Die Korruptionsbekämpfung war eine der wichtigsten Forderungen der Demonstranten von 2013/2014. Durch die teilweise Entmachtung des NABU und der SAP wurden diese Resultate zum Teil wieder zurückgenommen. Aber das Gegenargument von Staatsseite ist meiner Ansicht nach auch plausibel.

"Dass es diese Zentralisierungstendenz heute in der Ukraine gibt, würde ich nicht überbewerten."

Andreas Umland, Politikwissenschaftler

Sie meinen den Kriegszustand als Argument?

Richtig. Formal gesehen gibt es schon seit 2014 Krieg, aber bis Anfang 2022 gab es noch keine Großinvasion Russlands und keinen Überlebenskampf der Ukraine. Die Situation ist jetzt eine andere, und es gibt tatsächlich Indizien dafür, dass der russische Geheimdienst etwa das NABU infiltriert und dort Leute angeworben hat.

Machtkonzentration ist daher eine übliche Erscheinung für Länder im Kriegszustand. Großbritannien, das weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg besetzt war, hatte zu dieser Zeit eine zentralistische Innenpolitik, keine Wahlen und so weiter. Dass es diese Zentralisierungstendenz heute in der Ukraine gibt, würde ich daher nicht überbewerten.

Der Verdacht der Zivilgesellschaft und auch der politischen Opposition ist allerdings, dass es nicht nur um den Krieg geht, sondern dass die Umgebung und Parlamentsfraktion Selenskyjs vor Untersuchungen geschützt werden sollte.

Also dass es Korruption im Umfeld des Präsidenten gibt, die man vertuschen will?

Das ist die Vermutung. Aber ob diese beiden Organe nun ihre Untersuchungen in diese Richtung tatsächlich abgebrochen hätten, wenn sie dem Generalstaatsanwalt unterstellt wären, weiß man bisher nicht. Aber dieser Verdacht besteht erst einmal.

Der Geheimdienst SBU ist bereits in Büros der Behörden eingedrungen und hat sie durchsucht. Ist das nicht auch ein gezielter Einschüchterungsversuch?

Die Begründung dafür ist, und die ist nicht unplausibel, dass einzelne Mitarbeiter von Russland angeworben sind. Aus Moskauer Sicht schien es mir natürlich, dass man versucht solche Organe zu infiltrieren. Solche russischen Unterwanderungsversuche gab es vielfach. Auch in Ministerien, im SBU selbst, im Militär... es werden ständig Spione und Saboteure entdeckt, die von Russland bezahlt oder angeworben sind. Insofern ist die Begründung, dass es um staatliche Sicherheit geht, glaubhaft.

Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Transparenz

Durch diesen Vorstoß, der ja mittlerweile schon wieder an Schärfe verloren hat, wuchs die Sorge um die ukrainische Demokratie...

Die hohe internationale Nervosität um die ukrainische Demokratie ist unhistorisch. Einschränkung von Gewaltenteilung, Pluralismus und Freiheit waren noch nie ein Fundamentalproblem für die Ukraine. Seit 1991, also der Unabhängigkeitserklärung, war die Ukraine – mit Ausnahme der prorussischen Janukowitsch-Präsidentschaft 2010 bis 2014 – relativ offen, tolerant und frei.

Das Land hat andere Probleme. Dass dort jetzt ein dauerhaftes autoritäres Regime entsteht, ist eher unwahrscheinlich. Ich würde nicht ausschließen, dass Selenskyj abgewählt oder nicht wieder antreten wird, wenn der Krieg vorbei ist und es neue Präsidentschaftswahlen gibt. Dann wird sich der frühere Normalzustand wiederherstellen.

Der Kreml und russische Propagandisten nutzten die Proteste auch für sich. Man erzählt, die Protestierenden sähen Selenskyj als Kriegstreiber, der den Krieg absichtlich in die Länge ziehe. Wird so eine Propaganda am Ende Gehör finden?

Das ist für die russische Bevölkerung gemacht und auch für das westliche Ausland. Insofern ist das tatsächlich gefährlich! Die Proteste liefern Bilder für die russische Propaganda. Aber man darf nicht vergessen, dass solche Proteste in Russland gar nicht möglich sind. Diese Kritik aus Russland an der ukrainischen Demokratie ist grundsätzlich absurd. In der Ukraine gibt es wesentlich mehr Demokratie und inzwischen deutlich weniger Korruption als in Russland.

Insofern ist Russland das letzte Land, das die ukrainische Demokratie kritisieren könnte. Im Gegenteil: Man könnte sagen, dass gerade die Existenz solcher Proteste – selbst im Ausnahmezustand – ein Beweis für die fortgesetzte Demokratie sind. Auch gilt Selenskyj im ukrainischen politischen Spektrum eher als Taube, denn als Falke.

Sie meinen, Selenskyj ist eher an Diplomatie interessiert?

Ein "Falke" steht für eine aggressive, militaristische Politik und eine "Taube" für eine friedliche, diplomatische Lösungsorientierung. Im Vergleich zu anderen Politikern der Ukraine, ist Selenskyj relativ moderat. Insofern ist die Rhetorik, Selenskyj sei ein Kriegstreiber, absurd. Seine Konkurrenten wie der ehemalige Präsident Petro Poroschenko oder der ehemalige Oberkommandierende der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, sind nationaler und militaristischer orientiert. Wahrscheinlich wird nach den nächsten Wahlen sowohl das Parlament als auch das Präsidialamt der Ukraine nationaler als heute orientiert sein.

Ging es bei den Protesten allein um das neue Gesetz?

Was man nicht vergessen darf, ist, dass es in der Ukraine weiterhin Parteipolitik und Opposition gibt und dass viele von denen, die jetzt demonstrierten, frühere Wähler von Poroschenko sind. Insofern ist das auch eine parteipolitische Auseinandersetzung.

Unter anderem auch, weil Poroschenko im Mai durch Selenskyjs Regierung unter Sanktionen gestellt wurde.

Ja, auch das ist natürlich problematisch und geradezu dubios. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Poroschenko ist ein größeres Problem als die Zentralisierung. Petro Poroschenko ist kein Staatsgegner.

Aber ein Gegner Selenskyjs, zumindest innenpolitisch…

Empfehlungen der Redaktion

Richtig, und diesen Druck auf Poroschenko gibt es schon länger. Das liegt vermutlich auch daran, dass Poroschenko versucht, sich im Ausland als wahrer Repräsentant der Ukraine zu positionieren. Er kennt viele westliche Politiker, spricht sehr gut Englisch und betreibt eine Art Nebenaußenpolitik. Trotzdem sind die Einschränkungen seiner Reisefreiheit unangemessen.

Seine Umfrageergebnisse im Land sind nicht besonders aussichtsreich...

In den Umfragen erreicht er vielleicht zehn Prozent. Eine Wahl gewinnt er damit nicht. Er wäre daher eigentlich keine Gefahr für Selenskyj. Aber er präsentiert sich quasi als der eigentliche Präsident der Ukraine und dadurch geht er dem Präsidialamt auf die Nerven. Die versuchen, ihn zu bremsen. Aber das dürfen sie meiner Ansicht nach nicht, das müssen sie aushalten.

Über den Gesprächspartner

  • Andreas Umland ist promovierter Politikwissenschaftler und Analyst beim Stockholm Center for Eastern European Studies und Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums.