Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die sehr persönlichen Fragen unserer Leserinnen und Leser.
Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.
Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"
- Mein Partner hat keine Lust mehr auf Sex - und jetzt?
- Mitte 30, single, einsam - und jetzt?
- Ich verliebe mich immer in die Falschen - und jetzt?
- Ich möchte Liebe und Sex ohne Beziehung - und jetzt?
- Wir sind nur noch wegen der Kinder zusammen - und jetzt?
- Ich wünsche mir Seelenverwandtschaft - und jetzt?
- Ich finde jemand anderen als meinen Partner sexy - und jetzt?
Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format persönliche oder sogar intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen dann mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten - die sich mal ergänzen, mal widersprechen.
Eine Frage – verschiedene Antworten
In unserer aktuellen Ausgabe hat sich eine Person Antworten auf die folgende Frage gewünscht:
"Warum finden sich einige Menschen nach einer Beziehung in der ewigen Opferrolle und blockieren potenzielle neue Beziehungen und sagen, dass sie auch noch nach Jahren leiden? Sind das Ausreden, weil sie keine Beziehung wollen?"
Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage gegeben haben:
Simon B. Eickhoff: Erfahrungen können das Selbstbild formen
"Das Wort 'Ausreden' finde ich hier schwierig. Aus neurobiologischer Sicht ist unser Gehirn dauerhaft formbar.
Es ist so, dass uns die Erfahrungen, die wir machen, immer prägen, auch unbewusst. Das Erlebte kann mit der Zeit sogar Teil unseres Selbstbildes werden. Das kann zur Folge haben, dass man irgendwann sagt: Ich bin der, der immer leiden wird.
Das wird dann natürlich große Auswirkungen auf die eigenen Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung in der Zukunft haben."
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Simon Eickhoff leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.
- Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gehirnorganisation und neue diagnostische Ansätze für neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Dabei setzt er auf Künstliche Intelligenz.
Paula Lambert: Besser die Finger davon lassen
"Nein, das sind Ausreden, weil sie leiden wollen. Neulich hat mir jemand auf Instagram eine Frage gestellt: 'Wie komme ich aus dem Liebeskummer heraus? Ich will das nicht mehr'.
Es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Entweder konstruktiv, nämlich sich zu fragen: Was habe ich aus der Beziehung gelernt? Wie habe ich mich weiterentwickelt? Was war schön? Warum hat es nicht funktioniert?
Oder man sagt: Ich arme Sau, keiner liebt mich. Kurz gesagt: Dieser Mensch hat sich nicht genug weiterentwickelt, um tatsächlich bereit zu sein für eine neue Beziehung. Ich würde die Finger davon lassen."
Über die Gesprächspartnerin
- Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
- Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.
Torsten Geiling: Wenn jemand noch nicht so weit ist, kann man von außen wenig machen
"Manche Menschen richten sich in der Opferrolle ein und versuchen darüber, ihrem Ex-Partner ein schlechtes Gewissen zu machen: Mir geht es so schlecht wegen dir, nach Jahren bin ich immer noch im Loch und komme nicht raus und du bist schuld. Der andere soll dafür büßen. Wenn man weiterhin in der Opferrolle bleibt, sollte man sich irgendwann Hilfe holen.
Es gibt diese Trauerphasen und die können auch Jahre dauern. Zuerst ist man wütend, dann traurig, dann versucht man loszulassen und oft springt man hin und her. Aber normalerweise sollte diese Phase spätestens nach drei bis vier Jahren vorbei sein.
So lange kann es dauern, vor allem, wenn man sehr verliebt war und ungewollt aus der Beziehung herausgerissen wurde. Letztlich muss aber jeder selbst entscheiden, wie er mit einer Trennung umgeht. Wenn jemand in der Opferrolle verharrt, ist es schwierig, von außen zu helfen oder etwas Gutes zu tun. Wenn der Betroffene noch nicht so weit ist, dann ist das eben so."
Über den Gesprächspartner
- Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
- Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".
Michael Kühler: Auf Unterstellungen verzichten
"Hier ließe sich zunächst fragen: Sind das tatsächlich Ausreden? Das ist eine offene Frage, aber so wie es formuliert ist, klingt es so, dass dies als wahr unterstellt wird.
Bevor man aber nicht mehr über die Person weiß und ihre Biografie kennt, sollte man sich, glaube ich, tunlichst zurückhalten mit derartigen Unterstellungen, mit Annahmen, mit Analysen, wie die Person denn so tickt. Das ist etwas, das sich häufig als mindestens vorschnell oder typischerweise auch falsch erweist."
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
- Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.
Sharon Brehm: Raum geben - und Raum nehmen
"Wer Schmerzen hat, hat sie erst mal. Es gibt also ganz unterschiedliche Gründe, warum Menschen lange an ihrem Schmerz festhalten. Es kann tatsächlich sein, dass sie sich noch nicht sicher genug fühlen, dass sie Angst vor weiteren Verletzungen haben. Es kann auch ein Aufruf sein: Sei mitfühlend mit mir, sei vorsichtig mit mir, bitte tu mir nicht weh.
Es kann auch sein, dass man selber lange gebraucht hat, um den Schmerz zu erkennen. Dass man während der Beziehung ganz lange in einem Funktionieren war und erst, als die Beziehung aufgehört hat, für sich bemerkt hat: Okay, das ist eigentlich gerade das Thema. Wenn man jemanden datet und dann merkt, die Person hängt noch an alten Verletzungen und knabbert einfach daran, dann geht es nicht darum, der anderen Person zu sagen, dass sie das Problem ist oder dass sie krank ist - weil das ist nicht der Fall. Vielmehr ist es offensichtlich, dass es noch Redebedarf gibt, dass da noch etwas verarbeitet werden muss.
Und im Dating-Kontext ist die Person, mit der man gerade zusammen ist, nicht immer die richtige Ansprechperson. Wenn du merkst: Irgendwie hänge ich noch, aber eigentlich habe ich so viel Lust, mich auf jemanden einzulassen, aber ich habe zu viel Angst, den Schritt weiterzugehen - dann muss man sich Unterstützung suchen.
Und umgekehrt: Wenn man oft solche Personen anzieht, dann stellt sich die Frage, warum man diese anzieht? Es kann sein, dass dann die Person selbst sich wenig Raum nimmt, also im Kennenlernen. Das ist eigentlich etwas sehr Schönes und Therapeutisches: Sich selbst dem anderen empathisch zuzuwenden, nachzufragen, dem Gegenüber Raum zu geben, sich erst mal kennenzulernen und sich einladen zu lassen. Und es geht dann darum, selber noch mal die Balance zu finden: Darf ich mir auch ein bisschen mehr Raum nehmen?"
Zur Gesprächspartnerin
- Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
- Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".
Tanja Hoyer: Manche Menschen brauchen das Jammern
"Das lässt sich nicht pauschalisieren. Es könnte eine Ausrede sein. Aber ich glaube auch, dass das Ende einer jeden Beziehung einen Trauerprozess in Gang setzt. Und ich glaube, dass manche Menschen mit Gefühlen, Wut, Frust und Trauer einfacher umgehen können und andere Menschen eben nicht. Menschen verarbeiten Trennungen in sehr unterschiedlichem Tempo.
Es gibt Menschen, die können das aber auch gar nicht gut und wollen sich damit nicht wirklich auseinandersetzen. Sie wollen nicht fühlen, dass sie traurig sind, jammern stattdessen oder halten sich zurück. Das ist eine Strategie, mit sich selbst und anderen umzugehen. Jeder sucht sich seine Strategie, um leichter mit den Dingen zurechtzukommen – oder sich vor ihnen zu drücken.
Aber: Manchmal brauchen Menschen das 'Jammern' auch, sie suchen einen Ort, wo sie unzufrieden sein dürfen oder klagen, wie sehr sie immer noch leiden - und irgendwann ist plötzlich das ganze Leiden rum und eine neue Beziehung steht vor der Tür."
Über die Gesprächspartnerin
- Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
- Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.
Die Redaktion hat sich bereits mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigt:
- Christian Hemschemeier im Interview: "Menschen fühlen sich in der Opferrolle wohl"
- Überall Red Flags? Wie man sich das Liebesleben selbst schwermacht
- Nach toxischer Beziehung: Wie man in eine gesunde Partnerschaft kommt und diese gelingen kann
- Anfällig für toxische Beziehungen: Therapeut nennt zwei Personengruppen