"Wann ist ein Mann ein Mann?", fragte einst Herbert Grönemeyer. Schon damals war die Antwort nicht leicht. Das Netz macht sie heute noch schwerer. Immer mehr männliche Rollenbilder kursieren dort – vom "Alpha Male" bis zum "Performative Male". Zwischen toxischer Härte und inszeniertem Feminismus bleibt vor allem eines: Verwirrung. Doch anstatt alten Mythen hinterherzulaufen, gäbe es für die meisten Männer einen simplen ersten Schritt.
Eine junge Frau läuft durch die Menge, das Dirndl sitzt, ein Lächeln für die Kamera. Die Oktoberfest-Lichter blinken, im Hintergrund Gäste der Wiesn. Sie ist live – für ihre Follower, die zuschauen, wie sie das Fest erlebt. Doch dann kommt er ins Bild: ein Mann, stark betrunken, näher als vertretbar. Er legt seine Hand auf ihre Schulter, rückt dichter heran.
Inmitten des Lachens, der Musik, des Trubels tätigt er eine Aussage, die die junge Frau sexualisiert und abwertet. Sie schaut in die Kamera: "Das ist kein Kompliment." Doch er hört nicht auf. Und der Stream hält es fest.
Diese Übergriffigkeit ist nicht nur physisch, sondern auch symbolisch: ein Mann, der sich traut, Grenzen zu ignorieren. Der glaubt, Nähe dürfe er erzwingen, wenn er sich in einem Kontext des Feierns, des Alkohols verbirgt. Und eine Frau, die dagegenhält – live. Wie auch andere Bereiche unseres Lebens fallen Rollenbilder und die damit einhergehenden Verhaltensweisen nicht vom Himmel. Sie werden erlernt. Und auch in diesem Prozess spielt das Netz eine entscheidende Rolle.
Kinder lernen Rollenbilder schon früh
Männlichkeit in all ihren Formen wird über zahlreiche Kanäle gelehrt, geformt und sickert als Ideal spätestens ab dem Zeitpunkt ein, wenn Kinder ein Smartphone in den Händen halten. Schon bei kleinen Kindern und umso mehr bei Jugendlichen entstehen innere Landkarten davon, was es bedeutet, ein "echter Mann" zu sein. Serien, Filme und soziale Medien prägen diese Landkarte mit.
Was das bedeuten kann, zeichnet die erfolgreiche Netflix-Serie "Adolescence" nach. Ein 13-jähriger Junge wird des Mordes an einer Mitschülerin verdächtigt. Ein Spoiler, den auch die Serie nicht lange zurückhält: Er ist schuld. Er handelte aus Rache für eine Zurückweisung.
In einer besonders eindringlichen Szene sitzt der Junge vor einer Psychologin. Er wird laut, droht, schreit, springt auf und konfrontiert sie offen mit seiner Wut. Die Szene ist Ausdruck eines aufgestauten Drucks, eines inneren Konflikts, aber auch ein Spiegel dessen, was ihm beigebracht wurde: dass ein Mann sich durchsetzt, notfalls mit Verachtung, mit Einschüchterung, mit Gewalt.
Die Serie zeigt, dass die Zuschreibungen von Männlichkeit – von außen wie von innen – eine prägende Rolle spielen. Warum war "Adolescence" ein Erfolg? Weil sehr viele Menschen erkennen: Junge Männer sind keineswegs immun gegen die Vorbilder, die ihnen serviert werden – ob bewusst oder unbewusst. Und wenn diese Haltungen erst mal geformt sind, wird es schwer, dagegen anzuarbeiten. Wird es davor verpasst, entsteht eine Lücke, in die bestimmte Influencer treten können. Deren Botschaft ist einfach: Sei stark, sei gutaussehend, hab keine Gnade.
Die schlechtesten aller Vorbilder
Es ist kein Geheimnis: Figuren wie Andrew Tate treten genau in diese Lücke. Sie bieten eine klare Sprache, ein simples Bild: Stärke, Dominanz, Wettbewerb, Gefühlskälte. Für viele junge Männer, die verunsichert sind oder sich nicht reflektiert sehen, wirkt das attraktiv, fast verlockend in seiner Klarheit. Und es ist relativ einfach, dem nachzueifern. Etwa, indem man im Fitnessstudio den Körper stählt.
Frauen werden da reduziert, Narzissmus und Abwertung hallen mit, Aggression wird legitimiert. Wenn Männlichkeit nur über Macht und Kontrolle definiert wird, ist der Nährboden für Gewalt, Hass und Isolation gelegt. Es gibt aber nicht nur eine Form von neuem, alten Männlichkeitsideal. Mittlerweile gibt es die unterschiedlichsten Zuschreibungen im Netz, die auch ineinander übergehen können:
- Alpha Male: Dominanz, Stärke, Konkurrenz, Erfolg – das klassische Macho-Ideal.
- Sigma Male: Der "Einsame Wolf" – unabhängig, isoliert, außerhalb von Hierarchien.
- Beta Male: Sensibel, unterstützend, weniger aggressiv – oft abgewertet in den gängigen Narrativen.
- Incel: Männer, die unfreiwillig enthaltsam leben. Oftmals gepaart mit Frauenfeindlichkeit, da hier die Schuldigen für die Ablehnung gefunden werden.
- Hustler/Red Pill: Selbstoptimierer, die Männlichkeit mit Erfolg, Disziplin und Emotionsverzicht verbinden.
- Performative Male: Der Kontrast: Männer, die feministische oder "woke" Eigenschaften inszenieren, um attraktiv zu wirken – oft, ohne dass die Innerlichkeit gleichzieht.
Diese Bilder konkurrieren, überlappen, widersprechen sich – und sie lassen viele junge Männer ratlos zurück.
Widersprüchliche Männlichkeitsbilder
Allzu oft wird "echte Männlichkeit" mit konservativen Vorstellungen gleichgesetzt: Stärke ohne Schwäche, Kontrolle ohne Zweifel, Hierarchie ohne Kritik. Wer weint, ist schwach. Wer seine Unsicherheit zeigt, gilt als unmännlich. Das ist nicht nur schädlich für Frauen, sondern auch für die Männer selbst: Wer permanent darauf getrimmt ist, zu dominieren, zu unterdrücken, nichts zu hinterfragen, verliert Verbindung – zu sich selbst, zu anderen.
Die Gegenidee vieler Männer ist: "Jetzt zeigen wir's ihnen – viel Emotion, viel Feminismus, viel Sensibilität." Im performativen männlichen Feminismus zeigen sich scheinbar sensible Männer online als zarte Aktivisten, die feministische Literatur im Jutebeutel mit sich herumtragen, Taylor Swift hören und Matcha Latte trinkend ihre Gefühle offenbaren. Doch auch diese Art der Inszenierung ist keine Lösung, wenn er nur zur Show wird und ohne innere Arbeit bleibt. Die Alternative liegt nicht im gegenteiligen Extrem, sondern in der Brücke: in Reflexion, Empathie und der Bereitschaft, das Konzept von Männlichkeit selbst infrage zu stellen. Das – Überraschung! – lässt sich online aber weniger gut ausschlachten.
Allerdings gibt es schon jetzt öffentliche Personen, die nah an dieses Ideal herankommen. Zum Beispiel Maximilian Pollux: Der Ex-Knacki und ehemalige Schwerverbrecher teilt Bilder seiner Workouts und der Ergebnisse derselben auf Instagram – und gleichzeitig reflektierte Gedanken. Er zeigt, dass ein Mann nicht nur hart sein muss. Er erlaubt es sich, zwischen Kraft und Schwäche, zwischen Authentizität und Performance zu navigieren.
Ein erster Schritt
Vielleicht ist der Anfang ganz banal. Bevor Männer versuchen, Helden oder Heilige zu sein, ist ein erster Schritt sehr einfach. Und dieser hört sich nur so lange trivial an, wie man in den Kommentarspalten von öffentlich agierenden Frauen nachgeschaut hat, was da so los ist.
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Nach einer Weile hat man(n) dort nämlich das Gefühl, ein Vorfall wie der eingangs geschilderte auf der Wiesn ist keine Ausnahme, sondern die Regel in einer von kaputten Männlichkeitsbildern geprägten (Online-)Welt. "Wann ist ein Mann ein Mann?" Das weiß ich auch nicht. Aber ein erster Schritt wäre, zu versuchen, kein Arschloch zu sein.
Über den Autor
- Bob Blume ist Buchautor, Content Creator und Bildungsaktivist. Auf Instagram hat er als @netzlehrer 200.000 Follower. Er ist Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule und Bildung und wurde bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 als Blogger des Jahres ausgezeichnet. Für die Newsportale von 1&1 schreibt er über Phänomene im Netz.