Hamburg / Bochum - Ständig die Hände waschen oder desinfizieren, Türklinken nur mit dem Ärmel berühren und in Ferienhäusern erstmal das "saubere" Geschirr spülen. So mancher fühlt angesichts einer angeblich überall "lauernden" Gesundheits-Gefahr ein deutliches Unbehagen außerhalb der eigenen Wohnung. Wann aber ist die Angst vor Schmutz, Viren und Bakterien normal? Und wo ist die Grenze zwischen gesundem Hygieneverhalten und übertriebener Furcht?
Wenn es um potenzielle Ansteckungsmöglichkeiten mit gefährlichen Bakterien, Viren oder Pilzen im Haushalt geht, ist Professor Johannes Knobloch, Facharzt für Mikrobiologie, Virologie, Infektionsepidemiologie und Krankenhaushygiene ganz gelassen. "In den wissenschaftlichen Studien, die zeigen, was auf einer Oberfläche alles eine Woche überleben kann, wird ganz viel überinterpretiert. Und es sind vollkommen unrealistische Laborbedingungen", so der Experte.
Zwischen Schmutz und Sicherheit: Wie gefährlich ist Alltagsdreck wirklich?
Denn ob man einen Fahrstuhlknopf betätigt, eine Türklinke anfasst oder einen Kaffee aus einer vergammelten Maschine trinkt: "Davon geht in der Regel und für gesunde Menschen keine ernstzunehmende Gefahr aus!"
Ihnen könnten üblicherweise selbst Schimmel im Kaffeefilter oder im Toaster nichts anhaben: "Bei jedem wunderbaren Waldspaziergang wimmelt es unterm Laub von Schimmelsporen. Dort haben Sie viel mehr Kontakt damit als beim Abfalleimer oder Haushaltsgerät in einer fremden Wohnung!"
Im Normalfall heißt es für Menschen ohne ernste, gesundheitliche Beeinträchtigungen: Wirklich relevant von Oberflächen ist nur das, was als klassische Schmierinfektion bekannt ist. Und dazu stellt sich auch noch die Frage des Übertragungsweges.

Tatsächlich kann sich beispielsweise ein Norovirus zwar über mehrere Tage infektiös auf einer Oberfläche befinden. "Aber damit ich davon krank werde, müsste er von dort in meinen Mund gelangen und ich ihn runterschlucken", so Knobloch. Ergo: "Nur, weil ich mich auf eine Toilettenbrille setze, die kontaminiert ist, werde ich davon nicht zwingend krank."
Wenn man sich nach dem Besuch eines fremden WCs nicht die Hände wäscht und dann am nächsten Imbissstand zu Fingerfood greift, hat man allerdings den Übertragungsweg geschlossen, so der Chef der Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg. Bedeutet aber im Umkehrschluss auch: Wer sich nach dem Toilettengang konsequent die Hände wäscht, hat schon ganz viel der theoretischen Ansteckungsmöglichkeiten durchbrochen. Von Haushaltsgeräten oder fremdem Geschirr gehe aber keinerlei Gefahr aus.
Wenn Ängste zur Mysophobie werden
Was nicht bedeutet, dass es nicht Menschen gibt, die dennoch davor Angst haben. Oder die schon beim Gedanken an fremde Toiletten, Fahrstuhl-Knöpfe oder Treppen-Handläufe Übelkeit empfinden und Herzrasen bekommen.
"Spätestens dann sollte man ernsthaft etwas dagegen tun", sagt André Wannemüller, Psychologe und Autor ("Ratgeber Phobische Störungen"). Denn dann ist es zu einer so genannten Mysophobie - der krankhaften Angst vor Schmutz und Ansteckung mit Bakterien und Viren - nicht mehr weit. Was aber ist noch normal - und wo wird eine Grenze überschritten?
Klar ist: Dass man sich auf einer Bahnhofstoilette ekelt und sich nicht ohne Desinfektionstücher hinsetzt oder sich davor scheut, etwas anzufassen, was dreckig oder gar nach Exkrementen aussieht, ist absolut nachvollziehbar. Und auch von der Natur bewusst so eingerichtet. "Es ist ein ganz natürliches Verhalten, dass wir bemüht sind, uns vor Kontaminationen zu schützen", sagt der Privatdozent von der Ruhr-Uni Bochum.

Wenn ich jedoch anfange, vom Treffen mit Freunden früher nach Hause zu gehen, um dort kein WC benutzen zu müssen, wenn ich Restaurant-Besuche ganz vermeide, weil ich dort allerorten von nicht überschaubaren unhygienischen Verhältnissen umgeben bin, sollten die Alarmglocken schrillen. "Dann richtet man seine Alltagsstruktur danach aus, und irgendwann kommt man aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus", warnt Wannemüller.
Strategien gegen die Angst vor Keimen: Tipps zum Gegensteuern
Wie dann vorgehen, damit sich die Spirale nicht immer weiter dreht? "Gegensteuern kann ich grundsätzlich, wenn ich an mir selbst merke oder es auch von anderen gespiegelt wird, dass ich mit meinem Verhalten übertrieben reagiere und ein bisschen drüber bin", sagt der Experte für phobische Störungen.
1. Vorstellungskraft benutzen
Manchmal kann es dann schon helfen, sich ganz realistisch auszumalen, wie lange es dauern würde, wenn ich mich wirklich durch Viren oder Bakterien angesteckt hätte - und schlimme Magen-Darm-Probleme oder gar eine Hepatitis bekomme. Nach einer gewissen Inkubationszeit wird den Betroffenen dann jedoch klar, dass tatsächlich nichts passiert ist.
2. Probieren statt kontrollieren
Dann kommt der nächste Schritt: "Den Mut aufbringen und sagen, ich teste mal ganz bewusst, was passieren kann." Und zwar genau in solchen Situationen, die ich vorher immer vermieden habe. Sprich: Den Fahrstuhlknopf drücken, ohne ihn vorher zu desinfizieren, und dann mit dem Finger über die Lippe fahren oder ihn sogar in den Mund stecken.
"Ich provoziere diese vermeintliche Gefahr absichtlich und verzichte bewusst auf die Anwendung von allen Strategien, die Sicherheit schaffen. Denn das ist am Ende eh nur eine Pseudosicherheit", sagt der psychologische Psychotherapeut.

Die Idee dahinter für Betroffene: Wenn ich dann nach einigen Tagen immer noch gesund bin, und all die Horrorszenarien, vor denen ich Angst hatte, nicht eingetroffen sind, kann das dazu führen, dass ich auch die Einschätzung meiner Bedrohungserwartung peu à peu verändere.
Je nachdem, wie stark man sich fühlt und wie mutig man ist, kann man ein solches Verhalten selbst ausprobieren oder sich dabei von einem Therapeuten unterstützen lassen. "Wenn die erwartete Konsequenz ausbleibt, führt es dazu, dass ich immer mutiger werde und auch andere Dinge wage", sagt André Wannemüller.
Sprich: Wenn ich das zunächst noch unerträgliche Gefühl zulasse, wird es nach der Zeit immer weniger. "Am Ende führt dies dann zu einer rationaleren Bedrohungseinschätzung - und dass ich Unsicherheiten tolerieren lerne."
3. Vergleichen: Was ist wie gefährlich?
Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich bewusst zu machen, dass andere Situationen tatsächlich viel gefährlicher sind als das, wovor ich solche Angst habe. Beispiel Badezimmer. "Am häufigsten im Haushalt sterben Menschen auf nassen Fliesen - aber darüber macht sich kein Mensch einen Kopf, weil man einfach den Eindruck hat, man kann diese Situation kontrollieren", sagt Wannemüller.
Trotzdem kann es sein, dass Menschen so sehr unter einer Kontaminationsangst leiden, dass sie sich dem hilflos ausgeliefert fühlen. Und dass ihnen auch das ständige "Ausprobieren" keine Linderung bringt. Im Gegenteil: "Sie denken dann, wenn es zehnmal gut gegangen ist, dann wird es beim elften Mal garantiert schiefgehen."
Wenn Vermeidung zu Zwang führt: Hilfe holen
Die Situation dauerhaft vermeiden zu wollen oder Sicherheitsstrategien gegen die Angst anzuwenden, ist jedenfalls keine Lösung. André Wannemüller sagt: "Dadurch wird die phobische Furcht nur aufrechterhalten, weil man keine korrigierenden Erfahrungen mehr machen kann." Die Grenze zu einem Zwangsproblem ist dann fließend, wenn man außerdem das Bedürfnis entwickelt, sich zum Beispiel ständig "rituell" waschen zu wollen, um die Angst bei Gedanken an mögliche Kontamination zu reduzieren.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte man Expertenrat in Anspruch nehmen. Ebenso dann, wenn ich zwar immer wieder die gefährlichen Situationen provoziere, die Angst jedoch nicht weniger wird. "Dann muss man mit einem Profi überlegen, welche Strategien ich einsetzen kann, um bedrohliche Gedanken und Erwartungen in Expositionsübungen zu reduzieren und Unsicherheit zu tolerieren", so der Psychologe.
Unterm Strich hat André Wannemüller jedoch noch eine positive Nachricht: "Das Gute an diesen situativen Phobien ist, dass sie wirklich wahnsinnig gut behandelbar sind und man sie wirklich gut in den Griff bekommen kann!"
Hintergrund: Wie kommt es zur Kontaminationsangst?
Woran es liegt, dass einige Menschen keinerlei Sorge haben, den Fahrstuhlknopf zu drücken und danach einen Riegel Schokolade aus der Hand zu essen, während andere sich schon bei der bloßen Vorstellung schütteln, kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. "Es gibt mehrere prädisponierende Fakten, und oft ist auch ein Zusammenspiel verantwortlich", erläutert Wannemüller.
Zusätzlich zu einer genetischen, biologischen Veranlagung können auch Sozialisationsfaktoren kommen. Sprich: Aus einer Familie, in der die Eltern unsicher sind und alles tun, um Ängste zu vermeiden, werden auch die Kinder ängstlicher.
Und wer als Kind erlebt, dass die Eltern ständig vor oder nach dem Essen zum Feuchttuch greifen, wer aus der Kita kommt und seine Kleidung komplett ausziehen und durch eine Art "Kontaminationsschleuse" muss, der hat womöglich auch als Erwachsener eine besondere Angst vor Bakterien und Viren.
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Und schließlich kann auch die jeweilige Lebensphase Ängste verstärken: In dem Moment, wenn ich Verluste erfahren habe, wenn sich mein Partner von mir getrennt hat, eine Freundin gestorben ist oder mir im Job gekündigt wurde, reagiere ich oft anders auf potenziell bedrohliche Situationen, als wenn ich in einer guten psychologischen Verfassung bin. © Deutsche Presse-Agentur