• Spanien, Niederlande, Großbritannien: In immer mehr Ländern klettert die Sieben-Tage-Inzidenz weit über die 200er-Marke. Manche davon halten trotzdem an Lockerungen fest.
  • Wie besorgniserregend ist das? Und: Ist die Sieben-Tage-Inzidenz noch der richtige Maßstab für politische Entscheidungen?
  • Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk gibt Antworten - und weist auf eine ganze andere Gefahr hin.

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Weltweit verzeichnen mehrere Länder wieder über 250 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche, darunter zum Beispiel Spanien, Niederlande und Großbritannien (Stand 14.Juli). In Deutschland würde das wieder starke Einschränkungen bedeuten und die Bundesbremse aktivieren.

Ein Grund zur Panik? "Nicht unbedingt", sagt Epidemiologe Rafael Mikolajczyk. Denn die Inzidenz müsse man nun ganz anders interpretieren und bewerten als noch vor wenigen Monaten. "Die hohen Sieben-Tage-Inzidenzen kommen durch zwei Faktoren zustande: Die hochinfektiöse Delta-Variante und weggefallene Schutzmaßnahmen." In Großbritannien fallen am 19. Juli alle Einschränkungen, nur die Bitte, Maske zu tragen, bleibt. Die Niederlande hatten zwei Wochen ohne nennenswerte Einschränkungen erlaubt, bremste nun aufgrund hoher Infektionszahlen aber wieder und machte Clubs und Discos wieder dicht.

Inzidenz hat neue Bedeutung

"Die Lockerungen sind und bleiben ein Experiment. Großbritannien hat dabei schon zweimal falsch entschieden", so Mikolajczyk. Auch wenn die hohen Infektionszahlen für eine ungünstige Pandemiedynamik sprechen: Dasselbe wie zu Beginn des Jahres bedeuten die hohen Sieben-Tage-Inzidenzen nicht mehr.

"Jetzt ist die Impfrate viel höher, sodass der Anteil der schweren Erkrankungen unter den Neuinfektionen viel geringer ist", erklärt der Epidemiologe. Die Impfungen gegen das Coronavirus schützen nachweislich zu mindestens 80 Prozent vor einem schweren Krankheitsverlauf. Diese hohe Schutzwirkung ist laut RKI unabhängig vom verwendeten Impfstoff.

Corona-Lage in Deutschland: RKI-Lagebericht vom 15. Juli

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist erneut sprunghaft gestiegen. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) von Donnerstagmorgen lag sie bei 8,0.

Auskunft über Pandemiedynamik

Das führe dazu, dass bei einer aktuell hohen Inzidenz weniger Intensivbetten benötigt würden, als zu Beginn der Impfkampagne. In Deutschland sind inzwischen 43,7 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Das Robert-Koch-Institut hält eine Durchimpfungsrate von mindestens 85 Prozent für notwendig, um in Anbetracht der hochinfektiösen Delta-Variante einen Herdenschutz zu erreichen.

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz lag in Deutschland zuletzt (Stand 14.7) bei 7,1, am höchsten ist sie in den Bundesländern Bremen (11), Hessen (10) und Hamburg (12,2). Anfang Juli war sie bereits auf 5 gesunken. "Die Sieben-Tage-Inzidenz ist weiterhin informativ", sagt Experte Mikolajczyk. Ihre Veränderungen geben Auskunft über die Dynamik des Infektionsgeschehens.

Messwert: Freie Intensivbetten

"Grenzen die vorher Einschränkungen auslösten, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, gelten so nicht mehr", meint der Experte. "Wenn es darum geht die Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden, muss man direkt auf die Zahlen aus den Krankenhäusern schauen", meint er.

Laut Intensivregister ist die bundesweite Lage in den Krankenhäusern aktuell nicht angespannt, während in Schleswig-Holstein allerdings 20,5 Prozent der Intensivbetten frei sind, sind es im Saarland nur 12,2 Prozent. Mikolajczyk erinnert: "Die Durchimpfung in Deutschland ist noch geringer als Großbritannien. Wenn wir in Deutschland jetzt sofort alle Beschränkungen wieder aufheben würden, wären die Intensivstationen trotzdem noch schnell überlastet."

Im Wettlauf mit der Impfung

"Der Anstieg der Infektionszahlen beim Fallen aller Einschränkungen wäre jetzt noch zu schnell. Wir würden den Wettlauf zwischen Impfungen und der Pandemie noch verlieren", so der Experte. Wenn die Durchimpfung weiter steige, würde es zum Ende des Sommers aber besser aussehen. "Im Herbst finden allerdings wieder mehr Kontakte in den Innenräumen statt und dies wir zu einer zusätzlichen Belastung führen, also auch im Herbst ist noch von Einschränkungen noch auszugehen", meint der Experte.

Einen wichtigen Aspekt hält er bei der Frage nach Lockerungen für unterschätzt: "Wenn wir jetzt nur auf die Intensivbetten schauen, dann ist das nicht die gesamte Krankheitslast: Denn wir haben im Verlauf der Epidemie dazu gelernt. Es ist nicht nur die akute Erkrankung, die Probleme macht, sondern eine potentiell große Gefahr geht von Long-Covid aus", warnt Mikolajczyk.

Gefahr "Long Covid"

"Long Covid" oder auch "Post-Covid-19-Syndrom" steht für die Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung. Als sogenanntes Multiorganvirus kann das Coronavirus auch zahlreiche andere Organe wie etwa Niere, Herz oder Gehirn befallen.

Die bislang beobachteten Spätfolgen umfassen unter anderem Symptome wie ständige Erschöpfung, Atemnot, Schwindel oder neurologische Störungen, wobei diese auch häufig nach milden Verläufen auftreten und die Mechanismen nicht klar sind.

Noch mangelt es an verlässlichen und repräsentativen Daten zum Ausmaß von Long Covid. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) schätzt aber, dass etwa zehn Prozent aller Erkrankten unter Long-Covid-Symptomen leiden.

Überlastung von Reha-Zentren

"Je mehr Neuinfektionen wir tolerieren, desto mehr Menschen werden auch mit Long Covid zu kämpfen haben", erinnert der Experte. Noch ist unklar, wie lange die Beschwerden anhalten und ob es Verläufe mit dauerhafter Schädigung gibt. In der Folge könnten Reha-Einrichtungen in Zukunft überlastet sein.

Es sei jedoch schwierig, den Faktor Long Covid als konkreten Messwert in die Politik einzubeziehen. "Es ist vielmehr eine Werteentscheidung, ob wir auch diese Gefahr vermeiden wollen und daher die Pandemie weiter eindämmen wollen oder ob wir tolerieren, dass große Teile der Gesellschaft Long Covid bekommen werden, bevor auch diese Gefahr durch die Impfung gebannt ist", findet Mikolajczyk.

Über den Experten: Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk ist Mediziner und Epidemiologe. Seit 2016 ist er Professor für Epidemiologie und Biometrie und Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik an der Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Verwendete Quellen:

Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.