Sahra Wagenknecht will, dass die Deutschen "Aufstehen": Mit der sogenannten Sammelbewegung will die Fraktionschefin der Linkspartei neue linke Mehrheiten in Deutschland erreichen. Doch Politologen warnen: Statt es zu einen, könnte die Initiative das linke Lager weiter spalten. Auf das Aufstehen würde ein schmerzhafter Sturz folgen.

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Sahra Wagenknecht hat Anfang August für Furore gesorgt: Mit einer Sammelbewegung will sie parteiübergreifend Kräfte bündeln – und so für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Die Initiative "Aufstehen" soll am 4. September starten. Die Fraktionsvorsitzende der Linken hat damit stark polarisiert – und parteiübergreifend aufgeschreckt. Doch wie viel Potenzial hat die Bewegung?

Wie groß ist "Aufstehen" schon?

Der Web-Auftritt "Aufstehen" ist seit dem 5. August 2018 online. Seither haben sich 60.000 Menschen der Bewegung angeschlossen. "Wir haben mit einem solchen Zustrom nicht unbedingt gerechnet", sagte Wagenknechts Ehemann und Unterstützer Oskar Lafontaine.

Trifft "Aufstehen" also bei den Wählern einen Nerv? Politologe Gero Neugebauer sieht das skeptisch: "Jemand, der sich registriert, tut das, weil er nur so Zugang zur Internet-Seite bekommt. Ob er danach aufsteht oder sitzen bleibt, also 'Ja' sagt oder 'Nein', wird damit nicht mitgeteilt."

Und gegen was sollen registrierte Nutzer eigentlich "Aufstehen"? Hier bleiben die Initiatoren laut Neugebauer ebenfalls sehr vage, doch das könne auch Strategie sein – eine, die darauf abziele das Angebot erst nach Prüfung der Resonanz in der Bevölkerung zu präzisieren.

Für Politik-Experte Werner Patzelt von der TU Dresden ist dagegen klar: "Wagenknecht hat (…) erkannt, dass die Aufrechterhaltung sozialstaatlicher Solidarität im Widerspruch zur einer nachgiebigen Zuwanderungspolitik steht." Das bedeute, sie wolle im Interesse der kleinen Leute und der sozial Schwachen die Zuwanderung nach Deutschland begrenzen.

Patzelt zufolge widerspricht die Begrenzung der Zuwanderung aber einer wichtigen Kernüberzeugung der Linken und Grünen. Zugleich entspreche es aber einem Kernanliegen von AfD-Sympathisanten. "Insofern ist Wagenknechts Projekt geeignet (…) eine Querfront zur AfD aufzubauen", sagt der Experte. Das sei genau jene Querfront, der entlang es längst große Wählerwanderungen von der Linken und der SPD hin zur AfD gebe.

Wagenknecht versteht die Bewegung selbst als Gegengewicht zum Rechtsruck, wie sie in einem Interview mit unserer Redaktion bestätigte. Um die Wählerwanderungen zur AfD zu stoppen, hält Patzelt eine veränderte programmatische Aufstellung linker Parteien für erforderlich. Dies habe Wagenknecht erkannt – und damit habe sie eine klare Agenda und Kernforderung.

Fischen im Pool aus Nichtwählern, Protestwählern und Wähler kleiner Parteien

Politologe Gero Neugebauer sieht Wagenknecht "in dem Bassin fischen", in dem die unzufriedenen Wähler zu finden sind. Dazu gehörten Nichtwähler, Protestwähler, Wähler kleiner Parteien "und solche, die von den großen nicht angezogen werden ebenso wie Parteianhänger, die bei ihrer Partei die Befassung mit bestimmten Problemen vermissen", sagt der Experte.

Menschen also, die das Gefühl haben, dass dringende Probleme wie Rente, Kindererziehung, Integration und Einwanderung nicht grundsätzlich angegangen werden.

Wagenknecht hat das erkannt. "Umfragen zeigen, eine Mehrheit will bessere Renten, höhere Löhne, befürwortet eine Reichensteuer und will, dass Konzerne ordentlich besteuert werden. Nur, diese Mehrheit bildet sich politisch nicht ab", erklärt sie im Interview.

Wagenknecht gehe es darum, der Alternative für Deutschland nicht auch noch das Thema "Solidarität im Sozialstaat" zu überlassen, sagt Patzelt. Wenn es die AfD schaffe, auch dieses Thema wie ein Alleinstellungsmerkmal zu besetzen, sei gegen sie "kein Kraut mehr gewachsen", warnt der Experte.

Bei Wagenknechts Initiative handele es sich also um einen Versuch, von links her eine taugliche Strategie gegen den weiteren Aufstieg der AfD zu entwickeln. Dieser sei wesentlich durch die Migrationspolitik verursacht. "Und da hakt Wagenknecht zu Recht ein."

Wird "Aufstehen" Attacken von links überstehen?

Patzelt aber bezweifelt, dass die Bewegung die gemeinsamen Attacken sämtlicher Linken in Deutschland überstehen wird. Bereits nach Bekanntwerden wurde Wagenknecht für "Aufstehen" scharf kritisiert. So sagte Fraktionsvize Klaus Ernst in der ARD, er sehe weder in der Linken noch in den anderen Parteien eine Unterstützung dieses Weges.

Thomas Oppermann von der SPD machte in der ARD klar: "Sahra Wagenknecht träumt von einem starken Linkspopulismus in Deutschland. Das ist der falsche Weg, um die Rechtsentwicklung zu stoppen". Und der Chef der SPD in Nordrhein-Westfalen, Sebastian Hartmann, twitterte: "Die linke Sammlungsbewegung in Deutschland ist seit 1863 die #SPD. Wer mitmachen möchte, kann eintreten".

Auch führende Politiker der Linkspartei wie die Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger distanzieren sich von Wagenknechts Plänen.

Die Fraktionsvorsitzende der Linken zeigt sich indes kampfeslustig. Im Interview mit unserer Redaktion sagt sie: "Ich kann verstehen, dass diejenigen, die keine Veränderung wollen, Angst vor uns haben. Die sollen sie auch haben. Wir wollen ja gerade keine GroKo forever. Wir wollen eine neue Regierung, eine andere Politik." Ihre Bewegung würden einige offensichtlich als Bedrohung empfinden.

Es gibt aber auch Unterstützer wie den ehemaligen Grünen-Vorsitzenden Ludger Volmer. "Wir arbeiten an einer linken Mehrheit", sagte Volmer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Es geht um eine Stärkung der Linken insgesamt, damit ein gesellschaftliches Gegengewicht zu CSU und AfD entsteht".

Während Wagenknecht ihre Initiative "überhaupt nicht im Widerspruch zu ihrer Partei" sieht, hat sie Patzelt zufolge das Potenzial, "die Linke zu spalten". Außerdem kommt dem Experten "Wagenknechts Versuch wie eine Kopie des Ansatzes von Frau Petry vor". Die ehemalige AfD-Chefin hat mit wenigen Vertrauten die "Blaue Wende" gegründet, 500 Mitglieder stark und wenn es nach Petry geht, eine Bewegung, die Konservative sammelt.

Petry könne darauf hoffen, solche Bürger und Wähler zu erreichen, die ihr Vertrauen in die Unionsparteien und die SPD verloren haben, denen die AfD aber zu rechts und zu radikal sei.

Wagenknecht wiederum "findet das linke Spektrum gleichsam parteipolitisch verrammelt vor – und hat mit einer AfD zu konkurrieren, die sich daran macht, unter Björn Höckes Führung das Nationale fest mit dem Sozialen zu verbinden."

Erfolge kein politischer Kurswechsel à la "Godesberger Programm der SPD", befürchtet Patzelt, dass die Linke an der Migrationsthematik zerbricht. Dass die Linken allerdings für Reformen bereit sind, dafür spreche wenig. "Insgesamt sind das also schlechte Aussichten für Wagenknechts Projekt – und, wie man angesichts inzwischen so vieler Politikfehler beim Ringen mit der AfD resigniert feststellen muss, für unser Land insgesamt."

Kann aus der Bewegung eine Partei entstehen?

Kann sich Wagenknechts Bewegung allerdings behaupten, hält es Politik-Experte Neugebauer für denkbar, dass aus ihr irgendwann mal eine Partei wird. "Die Grünen sind durch UnterstützerInnen aus verschiedenen Bewegungen und Abwanderung von WählerInnen zur Partei geworden. Manche bezeichnen die SPD, die aus der Arbeiterbewegung kommt, als Sammlungspartei und die Linke versammelt in sich diverse linke Strömungen und Flügel", so Neugebauer.

Wagenknecht selbst äußerte sich wie folgt: "Wir wollen sammeln und nicht spalten. Wenn wir jetzt eine neue Partei gründen würden, würde das Mitgliedern vorhandener Parteien die Entscheidung aufzwingen, sich entweder nicht zu beteiligen oder die eigene Partei zu verlassen. Außerdem wäre eine neue Partei wenig erfolgversprechend. Denn viele Menschen wollen sich nicht in einer Partei engagieren."

Neugebauer sieht das anders. Die Chancen für eine neue linke Partei seien dann günstig, "wenn Dissidenten aus den 'alten' linken Parteien in ausreichender Zahl" hinzustoßen würden. "Der zu verteilende Kuchen dürfte nicht ausreichen, die Bedürfnisse aller Parteien zu befriedigen, aber den Druck auf die eine oder andere Partei erhöhen, sich alternativen Machtoptionen zuzuwenden – das heißt keine linke Option zu wählen."

Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann sieht Wagenknecht dagegen auf einem Irrweg. "Sie wird mit ihrer Bewegung keine neuen linken Mehrheiten erreichen", sagte der Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf der "Frankfurter Rundschau".

Der Wähler habe in Deutschland "genügend linke Angebote" bei SPD, Linken und Teilen der Grünen. Die Annahme, die Bewegung könne dem Thema soziale Gerechtigkeit besser zum Durchbruch verhelfen, sei "verwegen" und resümiert: "Das ist entweder naiv. Oder aber es ist Ausdruck eines Egotrips von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine."

Verwendete Quellen:

  • dpa
  • Politikwissenschaftler Gero Neugebauer: Der Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Parteienforschung
  • Politikwissenschaftler Werner Patzelt: Der Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Vergleichende Politikwissenschaft. Er ist seit 1991 Professor an der TU Dresden.
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