Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ist überzeugt: Die "Migrationswende" wirkt. Im Interview verteidigt der CSU-Politiker die umstrittenen Zurückweisungen an der deutschen Grenze – und sagt, ob die Union jetzt AfD-Forderungen umsetzt.

Joachim Herrmann verspätet sich etwas zum Interviewtermin. Der Innenminister wird noch im bayerischen Landtag gebraucht. Dort haben die Grünen die Staatsregierung aufgefordert, die Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens zu prüfen. Auch Herrmann spricht in der Debatte. Der CSU-Politiker ist skeptisch, die rechtlichen Hürden für ein Parteiverbot seien hoch. Er will die AfD inhaltlich stellen.

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Der erste Schritt dafür ist getan, sagt Herrmann im Gespräch in seinem Ministerbüro. Im Bund hat sich die schwarz-rote Koalition auf eine härtere Migrationspolitik verständigt. Der erste Schritt dafür: deutlich schärfere Kontrollen an den Außengrenzen.

Herr Herrmann, vor rund zwei Wochen hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) verschärfte Grenzkontrollen mit Zurückweisungen angeordnet. Wie funktionieren die genau?

Das funktioniert alles sehr gut. Von Seiten der Bayerischen Polizei weisen wir niemanden unmittelbar zurück. Wenn die Einsatzkräfte unserer Bayerischen Grenzpolizei den Eindruck haben, dass jemand unerlaubt einreisen will, wird die Person gestoppt und dann der Bundespolizei übergeben, die dann für die Zurückweisung nach Österreich, Tschechien und so weiter zuständig ist.

Für die erste Woche der Kontrollen sprach Alexander Dobrindt von bundesweit 32 Zurückweisungen. Angesichts des Aufwands nicht viel, oder?

Ich glaube schon, dass man die Zahl der unerlaubten Einreisen an der Grenze so reduzieren kann. Denn das Entscheidende ist ja nicht die Zahl der Zurückweisungen, sondern wie viele Menschen insgesamt ankommen, um einen Asylantrag zu stellen oder gar illegal einzureisen.

Wichtig ist der Effekt – und das Signal, dass es nicht mehr so leicht ist, nach Deutschland zu kommen.

Joachim Herrmann, bayerischer Innenminister

Bislang sieht es nicht so aus, dass sich die Zahl der Asylsuchenden durch die Kontrollen stark reduziert.

Ich bin davon überzeugt, dass dieses Vorgehen eine Art Domino-Effekt haben wird. Wenn unsere Nachbarländer wissen, dass es mit dem Durchwinken von Migranten nach Deutschland nicht mehr so weitergeht, ändert sich auch deren Verhalten. Dann werden sie selbst stärker darauf achten, Personen ohne Anspruch auf Asyl nicht einreisen zu lassen. Und wenn weniger Menschen bis an unsere Grenze kommen, braucht es auch weniger Zurückweisungen.

Die Polizeigewerkschaft GdP warnt mit Blick auf die Kontrollen aber schon jetzt vor Überlastung. Hat sich das Thema also bald wieder erledigt?

Die Bayerische Polizei hat über 900 Grenzpolizisten im Einsatz. Wenn die Bundespolizei an den Grenzen einen besonderen Schwerpunkt setzt, ist das die Entscheidung des Bundes. Da will ich mich nicht einmischen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass wir dies dauerhaft brauchen. Denn: Wichtig ist der Effekt – und das Signal, dass es nicht mehr so leicht ist, nach Deutschland zu kommen.

Die Polizei kontrolliert nur an Grenzübergängen – eine Gesamtüberwachung der Außengrenze ist aufgrund der Länge gar nicht machbar. Migranten können also weiterhin zwischen zwei Übergängen hindurch.

Die grüne Grenze hat es immer gegeben und es gibt sie natürlich auch weiter. Aber sie hat in den letzten Jahren so gut wie keine Rolle mehr gespielt. Ein relevanter Teil der Flüchtlinge wird mit Schleusern illegal ins Land gebracht. Klar fahren die auch über eine Nebenstraße, aber doch nicht mit dem Transporter mitten durch den Wald oder über die grüne Wiese. Außerdem haben wir bei der Überwachung modernste Technik, wie Drohnen, im Einsatz. Mag sein, dass einzelne noch durchkommen. Aber nicht mehr im großen Stil.

Es ist auch offenkundig, dass wir mit der Integration dieser vielen Menschen in den letzten Jahren überfordert waren.

Joachim Herrmann, bayerischer Innenminister

Der Bundesinnenminister beruft sich bezüglich der Zurückweisungen bei den Kontrollen auf das nationale Asylgesetz. Rechtsexperten sagen aber: Das ist nicht zulässig, weil diese Regeln dem EU-Recht untergeordnet sind. Bricht Deutschland also das Gesetz?

Personen, die aus sicheren Nachbarstaaten kommen, haben keinen Anspruch auf Asyl – und können deshalb nach nationalem Recht zurückgewiesen werden. Das ist geltendes deutsches Recht. Wir handeln rechtskonform, darauf verweisen auch namhafte Verfassungsrechtler wie Udo di Fabio oder Hans-Jürgen Papier. Deutschland kann sich auch auf Artikel 72 des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union berufen. Der erlaubt es, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit von Regelungen des europäischen Rechts abzuweichen.

Der Artikel 72 wird landläufig als nationale Notlage bezeichnet. Sie sehen also die Bedingungen dafür als gegeben?

Von einer Notlage steht in dieser Bestimmung nichts. Ich halte es für absolut vertretbar, dass man sich aktuell auf diesen Artikel beruft. Wenn zuhauf Personen ankommen, die sich nicht ausweisen können oder die offensichtlich bei ihrer Durchreise durch andere Mitgliedstaaten nicht registriert werden – dann ist das ein zusätzliches Risiko für die innere Sicherheit. Es ist auch offenkundig, dass wir mit der Integration dieser vielen Menschen in den letzten Jahren überfordert waren. Das zeigt sich zum Beispiel am hohen Anteil der Ausländerkriminalität. Wenn der bei mehr als 40 Prozent liegt, dann ist das ein Problem für die Sicherheit und Ordnung in unserem Land.

Der EuGH hat dieses Argument bislang bei keinem anderen Staat gelten lassen. Was macht Sie so sicher, dass Deutschland damit durchkommt?

Wir werden erstmal sehen, wie die Europäische Kommission damit umgeht. Wir sind schließlich nicht allein. Polen beruft sich bei seinem Vorgehen an der Grenze zu Weißrussland auf den Artikel, Finnland mit Blick auf die russische Grenze und Österreich beim Aussetzen des Familiennachzuges. All das hat die Kommission bislang zur Kenntnis genommen und nichts getan. Es gab auch bisher keine Klagen.

Es ist in dieser Situation aber auch nicht zumutbar, dass nur Deutschland sich penibel an die Vorschriften hält.

Joachim Herrmann, bayerischer Innenminister

Sie haben vor kurzem gesagt: "Das sogenannte Dublin-System funktioniert genauso wenig wie ein gemeinsames europäisches Asylsystem." Ist das die Schuld der EU-Gesetze – oder der Mitgliedsstaaten?

Das kann man nicht voneinander trennen. Es ist nachvollziehbar, dass manche Staaten die Notbremse gezogen haben. Sowohl Schengen als auch das europäische Asylrecht beinhalten, dass die Außengrenzen konsequent kontrolliert und dort die Asylverfahren durchgeführt werden. Mit der Zahl an Migranten von vor 20 Jahren dachte die Politik, es wird funktionieren. Doch je mehr Flüchtlinge es wurden, desto weniger haben sich die Länder an den Außengrenzen an geltende Regeln gehalten.

Klingt wie: Weil das System nicht funktioniert, soll Deutschland die bestehende Rechtslage einfach ignorieren.

Ich kann nachvollziehen, dass die Regierung in Rom nicht damit einverstanden ist, wenn nach geltendem Recht ein Großteil der Migranten in Italien bleiben soll. Es ist in dieser Situation aber auch nicht zumutbar, dass nur Deutschland sich penibel an die Vorschriften hält.

Die Grenzkontrollen sind Teil der "Migrationswende", die von der Union vorangetrieben wird. Woran bemessen Sie deren Erfolg: an der Zahl der Asylsuchenden, an den Zurückweisungen – oder an den Umfragewerten der AfD?

Die Umfragewerte der AfD sind für uns ein Auftrag, die Partei politisch zu bekämpfen. Das hat nichts mit den Flüchtlingszahlen zu tun. Die müssen unabhängig davon dauerhaft runter. Dabei darf man nicht vergessen: Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung, die uns für den Arbeitsmarkt hilft, und müssen diejenigen, die bereits legal bei uns sind, erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren. Wer allerdings kein Bleiberecht hat, muss auch wieder gehen. Ich fange aber nicht an, Zahlen in die Welt zu setzen.

Es wirkt, als würden CDU und CSU in der Asylpolitik AfD-Positionen übernehmen. AfD-Chefin Alice Weidel wirft der Union genau das vor. Bekommt man die Partei dadurch klein?

Was Frau Weidel sagt, ist für mich nicht der Maßstab. In jeder Schulklasse gibt es einen, der behauptet: Der Nachbar hat abgeschrieben. Deswegen muss das aber nicht stimmen. Dass die Flüchtlingszahlen zu hoch sind, sagt die CSU seit zehn Jahren. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt einen Bundeskanzler haben, der diese Meinung teilt – und konsequent handelt.

Der Verfassungsschutz hat die AfD zuletzt als gesichert rechtsextrem eingeschätzt. Sehen Sie das auch so?

In der AfD gibt es teils massive, verfassungsfeindliche Umtriebe. Das hat auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz festgestellt und das wurde auch vom Verwaltungsgericht München bestätigt. Zentraler Aspekt war dabei vor allem Verstöße gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie die Verletzung der Menschenwürde von Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen muslimischen Glaubens. Auch das 1000-seitige Gutachten des Verfassungsschutzes listet eine ganze Reihe von Punkten auf, die das belegen und zeigt, welche Gefahren in der AfD heranwachsen.

War es klug, das Gutachten im Anschluss unter Verschluss zu halten?

Ich frage mich genauso, warum Nancy Faeser in ihren letzten Tagen als Innenministerin das Ergebnis noch verkünden musste – die Grundlage aber geheim halten wollte. Diese Entscheidung von Frau Faeser kann ich nicht nachvollziehen. Inzwischen ist das Gutachten ja auch für jeden einsehbar.

Über den Gesprächspartner:

  • Joachim Herrmann ist seit 2007 Bayerischer Staatsminister des Innern. Er wurde am 21. September 1956 in München geboren. 1977 trat er in die Junge Union und die CSU ein. 1994 zog er erstmals in den bayerischen Landtag ein. Von 1997 bis 1998 war er stellvertretender Generalsekretär der CSU und von 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie, Frauen und Gesundheit. Von 2003 bis 2007 war er zudem Vorsitzender der CSU-Fraktion im Landtag. Herrmann ist verheiratet und Vater von drei Kindern.