Mit Spannung wurde in der Türkei eine Gerichtsentscheidung über die Zukunft der größten Oppositionspartei erwartet. Diese wurde nun vertagt. Der Druck bleibt aber bestehen.
Der Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, bleibt vorerst im Amt. Ein Gericht in Ankara hat die Entscheidung über die Annullierung des Parteitags von 2023 vertagt. Damit wird auch die Entscheidung über die Zukunft des Oppositionschefs verschoben. Das Gericht habe noch weitere Unterlagen eingefordert, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Der Prozess werde am 24. Oktober fortgesetzt.
In dem Verfahren geht es um den Vorwurf, dass Delegierte bestochen wurden, um ihre Stimme für Özel abzugeben. Die CHP-Parteiführung weist die Vorwürfe zurück und argumentiert, dass eigentlich die Wahlbehörde und nicht ein Gericht darüber entscheiden sollte, ob die Abstimmungen rechtmäßig waren.
Sollte Özel durch einen Verwalter ersetzt werden, würde das Beobachtern zufolge das Ende einer unabhängigen Opposition in der Türkei einleiten.
Proteste zur Unterstützung der Opposition
Die CHP steht seit Monaten unter Druck und sieht sich als Opfer einer politischen Kampagne der Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan. Özgür Özel hatte den langjährigen und erfolglosen ehemaligen Parteichef Kemal Kilicdaroglu vor zwei Jahren an der Spitze abgelöst und die Partei neu ausgerichtet.
Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr zahlte sich das für die CHP aus – sie fuhr einen überraschenden Erfolg ein und gewann die meisten Bürgermeisterämter im Land.
Seitdem wurden zahlreiche oppositionelle Bürgermeister im Zuge von Terror- und Korruptionsermittlungen verhaftet, darunter der Istanbuler Bürgermeister und Erdogan-Rivale Ekrem Imamoglu. Das löste Massenproteste aus. Der CHP-Politiker wurde nach seiner Festnahme als Bürgermeister abgesetzt und sitzt seit einem halben Jahr ohne Anklage im Gefängnis – er gilt als aussichtsreicher Herausforderer von Erdogan bei zukünftigen Wahlen.
Anfang September waren erneut zahlreiche Oppositionspolitiker festgenommen worden, darunter der CHP-Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Bayrampasa. Daraufhin hatten in Ankara Zehntausende gegen das Vorgehen gegen die Opposition und zur Unterstützung Özels protestiert.
Autokratische Tendenzen?
Beobachter warnen, dass das aktuelle Verfahren weitreichende Folgen für die türkische Oppositionslandschaft haben könnte. Der Politikwissenschaftler Berk Esen betonte, dass die Absetzung der CHP-Führung per Gerichtsbeschluss das Ende eines funktionierenden Mehrparteiensystems bedeuten würde.
"In diesem Fall würden wir zu einem viel hegemonialeren, autoritäreren Regime übergehen, in dem Wahlen keine große Rolle mehr spielen", sagte Esen. Erdogan wolle die Türkei in eine Autokratie nach russischem Vorbild umbauen, in der die Wahlurne keine Rolle mehr spiele, so die Türkei-Expertin Gönül Tol in einem politischen Podcast.
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Erdogan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Seit der Einführung eines Präsidialsystem 2018 hat er weitreichende Befugnisse und unter anderem maßgeblich Einfluss auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. Die nächsten regulären Wahlen stehen 2028 an. Laut Verfassung darf Erdogan nur im Fall von Neuwahlen noch einmal als Kandidat antreten. Er strebt jedoch eine Verfassungsänderung an. (dpa/bearbeitet von lla)