Die erste Staffel der Fantasy-Serie "Sandman" vor drei Jahren war für Netflix ein großer Erfolg. Jetzt erscheinen die abschließenden Folgen mit der Last eines Skandalautors.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Felix Reek dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ein neuer Serienstart läuft immer nach dem gleichen Schema ab. Journalisten erhalten einige Wochen vorher die Möglichkeit, die neuen Folgen zu sehen. Sie sollen die Aufmerksamkeit für die Veröffentlichung erhöhen und im besten Fall mit einer guten Kritik das Interesse anheizen.

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Bei der zweiten Staffel von "Sandman", die am 3. Juli 2025 auf Netflix startete, ist das anders. Keine Folgen vorab, und selbst am Morgen der Veröffentlichung war nichts auf dem Streaming-Portal zu finden. Als Staffel dann endlich erschien, ließ sich das nur durch die Suchfunktion feststellen.

Dabei war die Serie vor drei Jahren, mit Staffel eins, ein echter Hit. In "Sandman" wird der Gott des Schlafes, "Dream" (Tom Sturridge), gefangen genommen und muss sein Reich zurückerobern. Die Serie basiert auf der Comic-Reihe des Autors Neil Gaiman und hier beginnt das Problem.

Im Januar 2025 erschien im New York Magazine ein Artikel, der dem britischen Autor Übergriffe, Misshandlungen und sexuelle Nötigung vorwarf. Acht Frauen berichten über verschiedene Vorfälle im Zeitraum zwischen 1986 und 2022.

Vorwurf der sexuellen Nötigung

Weitere Details wurden bekannt. Eine der Frauen soll Gaiman 2020 als Obdachlose aufgenommen und unter Druck gesetzt haben. Als sie seiner Ehefrau, der Musikerin Amanda Palmer, davon berichtet habe, habe Palmer erklärt, bereits von mehr als einem Dutzend Frauen zu wissen, denen Gaiman mehrere 100.000 Dollar als Entschädigung gezahlt habe.

Eine weitere Frau soll als Nanny für das Paar gearbeitet und ebenfalls eine sexuelle Beziehung mit Gaiman gehabt haben. Zu seiner Verteidigung veröffentlichte der Autor Anfang dieses Jahres Chatverläufe zwischen ihm und der Frau, die mittlerweile Klage gegen ihn eingereicht hat. Gaiman bestreitet alle Vorwürfe und besteht darauf, dass die sexuellen Beziehungen einvernehmlich gewesen seien. Seine Ehefrau trennte sich 2022 von ihm. Wegen eines laufenden Scheidungsverfahrens und des Rechtsstreits um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn schweigt sie bis heute.

Neil Gaiman ist vielfach ausgezeichnet, besitzt einen Ehrendoktor der Philadelphia University of Arts und der University of Saint Andrews, wurde mehrmals in der Fernsehserie "Die Simpsons" verewigt – die endgültige Bestätigung, in der "coolen" Popkultur angekommen zu sein. Mehrere seiner Comics und Bücher wurden in den letzten Jahren von Streaming-Anbietern adaptiert: "American Gods" lief zwischen 2017 und 2021 auf Prime Video, ebenso wie "Good Omens", das er zusammen mit Kultautor Terry Pratchett erfand. Netflix adaptierte "Dead Boy Detectives" und sein bekanntestes Werk "Sandman".

Mittlerweile ist es um Gaimans Projekte ruhig geworden. Der Comicverlag Dark Horse ließ ihn fallen, Disney strich die Verfilmung von "The Graveyard Book". "Dead Boy Detectives" wurde wegen schwacher Zugriffszahlen eingestellt, die dritte Staffel von "Good Omens" auf ein 90-minütiges Special zusammengestrichen. "Anansi Boys", eine weitere Serie für Prime Video, ist seit drei Jahren fertig, sie wird wahrscheinlich nie erscheinen.

Ein Fest für Fantasy-Nerds

Bleibt noch "Sandman", das eigentlich aus zehn Comic-Bänden besteht und jetzt nach der zweiten Staffel endet Netflix betont, dass Gaiman kaum noch daran beteiligt gewesen sei. Anzusehen ist das den letzten Folgen nicht. Auch die zweite Staffel von "Sandman" ist ganz das Produkt des britischen Fantasy-Autors: ein wilder Mix aus mythischen Figuren, Geschichte, Sagen und eigenen Einfällen.

Es gibt neue Unsterbliche, aber auch nordische Gottheiten, Feen, Engel und einen Teufel, der keiner mehr sein will. Visuell ist es bombastisch aufbereitet, ein echtes Fest für Fantasy-Nerds. Das kann keiner so wie Gaiman. Gleichzeitig wirkt die finale Staffel von "Sandman" überladen, ziellos, der Twilight-meets-The-Cure-Look von Morpheus/Dream mit seinem dahingehauchten Gemurmel irgendwie zu angestrengt.

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Das grundsätzliche Problem bleibt bestehen: Lässt sich der Künstler von seinem Werk trennen, die Serie also genießen, obwohl bei allem der Skandal um Gaiman mitschwingt? Das Argument aller Beteiligten ist, dass so viel Arbeit in diese Produktion geflossen sei, dass sie ausgestrahlt werden sollte. Die Serie bleibt trotzdem vergiftet, obwohl Neil Gaiman bisher nicht verurteilt wurde, also Aussage gegen Aussage steht.

Das war auch in den letzten #MeToo-Fällen so – die moralische Beurteilung ist aber nicht gleich der juristischen. Rammstein-Texte haben heute eine andere Bedeutung als noch vor einigen Jahren. Musiker Sting dürfte mittlerweile anders darüber denken, dass er 1997 den Police-Song "Every Breath You Take" für Puff Daddys größten Hit "I'll Be Missing You" freigab.

Wie stark Missbrauchsvorwürfe den Genuss eines Kunstwerks beeinflussen, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Die Leidtragenden sind in diesem Fall tatsächlich all jene, die an "Sandman" beteiligt waren.