Beschleunigt sich der Klimawandel? Ein eindringlicher Appell von DPG und DMG warnt vor drei Grad Erwärmung bis 2050. Doch es gibt auch Gegenstimmen. Warum sich die Wissenschaft nicht immer einig ist.
Bereits im Jahr 2050 könnte sich die Erde um drei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter erwärmen. Zu dieser Einschätzung kommen die Deutsche Meteorologische Gesellschaft (DMG) und die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) in einem gemeinsamen Appell.
Die Botschaft ist alarmierend: Der Weltklimarat IPCC ging in seinem sechsten Sachstandsbericht 2023 noch davon aus, dass drei Grad über dem vorindustriellen Niveau zum Ende des Jahrhunderts erreicht werden, wenn keine weitreichenden Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden – also rund 50 Jahre später. Demnach würde sich der Klimawandel beschleunigen.
Gegenstimmen aus der Wissenschaft
Doch nicht alle Forschenden teilen diese Prognose. Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut hält drei Grad bis 2050 zwar nicht für ausgeschlossen, aber für "doch sehr unwahrscheinlich". Dafür müssten gleich mehrere "worst cases" zusammentreffen, sagte er laut "Tagesschau.de". Auch andere Fachleute wie Bjorn Stevens vom Max-Planck-Institut für Meteorologie warnen davor, kurzfristige Schwankungen mit langfristigen Trends zu verwechseln.
Physiker Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut, der nicht an dem Apell beteiligt war, kommt in seinen Berechnungen zu diesem Schluss: "Meines Erachtens erreichen wird bis 2050 global eher 2 bis 2,3 Grad, im pessimistischen Szenario", sagte er im Interview mit dieser Redaktion. Pessimistisch bedeutet: Business as usual – also anhaltend hohe Treibhausgas-Emissionen.
"Schaut man allerdings nur auf Europa, dann kommt man auf etwa drei Grad in 2050", sagt Lohmann. Das liege daran, dass sich Landmassen stärker erwärmen als die Ozeane, die etwa 70 Prozent der Erdoberfläche bedecken.
Warum die Wissenschaft oft uneinig wirkt
Das zeigt: Selbst unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt es eine Bandbreite verschiedener Einschätzungen. Drei Grad im Jahr 2050 – oder erst im Jahr 2100? Die atlantische Umwälzströmung schwächt sich ab – aber steht sie unmittelbar vor dem Kollaps? Für viele Laien wirken solche Meldungen oft verwirrend. Was soll man nun glauben, wenn sich selbst Forscherinnen und Forscher uneinig sind?
Dazu muss man wissen: In der Wissenschaft geht es letztlich immer nur um die Annäherung an die Wirklichkeit. Ein Restzweifel bleibt bestehen. Lohmann erklärt es so: "Das Klimasystem ist kein Physiklabor, in dem man ganz klare Rahmenbedingungen hat und Experimente wiederholen kann. Wir haben keinen Planet B, auf dem wir Dinge ausprobieren könnten."
"Ein Modell ist nun einmal nicht die Realität"
Deshalb greifen Forschende wie Lohmann häufig auf Computer-Modelle zurück, die das Klimasystem simulieren. "Aber ein Modell ist nun einmal nicht die Realität", sagt Lohmann. Je nach Modell-Design werden manche Aspekte stärker oder schwächer gewichtet, andere Annahmen getroffen. Natürlich passieren auch Fehler.
Auch die Qualität der Daten ist entscheidend: Temperaturdaten sind lang und robust, weil sie Jahrhunderte zurückreichen. Andere Datenreihen sind hingegen relativ kurz oder lückenhaft, wie etwa Daten für die atlantische Umwälzbewegung, die erst seit rund zwei Jahrzehnten aufgezeichnet werden. Das schwächt ihre Aussagekraft. "Deshalb gibt es oft eine ganze Bandbreite von Ergebnissen, die sich auch widersprechen können", sagt Lohmann.
Hinzu kommt, dass die Wissenschaft längst nicht alle Mechanismen des komplexen Klimasystems verstanden hat. "Effekte wie auftauende Permafrostböden sind in den Klimamodellen heute noch gar nicht berücksichtigt", sagt Lohmann. Das Problem dabei: Mikroorganismen zersetzen in den auftauenden Böden jahrtausendealte Pflanzenreste und setzen dabei Methan frei – ein 21-mal stärkeres Treibhausgas als CO2.
Es gibt noch weitere sogenannte Kippelemente wie dieses, die zu unumkehrbaren Veränderungen im Klimasystem führen könnten – und in den Modellen bislang gar nicht auftauchen. Das heißt: Es könnte sogar noch schlimmer sein, als es Klimamodelle heute vorhersagen.
Warum 2050 als Marke wichtig ist
Sicher ist nur: Je kürzer der Zeithorizont, desto verlässlicher sind die Ergebnisse der Modelle. Wie sich die Weltbevölkerung in einhundert Jahren entwickelt, welche politischen Entscheidungen bis dahin getroffen und welche Mengen Treibhausgase emittiert werden, ist schwer vorherzusagen.
Dass nun häufig das Jahr 2050 als Referenzpunkt verwendet wird, ist allerdings eher weniger wissenschaftlich begründet. "2100 klingt einfach noch sehr weit weg, das geht auch mir so", sagt Lohmann. "2050 nicht – das werden viele von uns noch erleben." So bekommt das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung eine größere Dringlichkeit: 2050 ist nah genug, um die Auswirkungen zu spüren - und weit genug entfernt, um etwas dagegen zu unternehmen.
Denn egal, ob DPG und DMG mit ihrer düsteren Prognose am Ende richtig liegen oder Gerrit Lohmann mit 2,3 Grad: In beiden Fällen wäre das internationale Ziel, die Temperaturerhöhung bis zum Jahr 2100 auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, gescheitert – mit unabsehbaren Folgen.
Schon heute sind die Auswirkungen des Klimawandels spürbar. Die Häufigkeit und Intensität von Hitzeperioden, Dürren oder anderen Extremwetterereignissen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Allein in Europa sterben jedes Jahr Tausende Menschen an den Folgen von Hitze.
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Denn bei allen Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten, die es in der Wissenschaft gibt, herrscht doch in einer Frage große Einigkeit: "Der menschgemachte Klimawandel an sich ist unumstritten. Ich kenne keinen seriösen Wissenschaftler, der das infrage stellt.", sagt Lohmann. "Es ist dringender denn je, aktiv zu werden."
Über den Gesprächspartner
- Dr. Gerrit Lohmann ist Physiker und Klimaforscher. Als Professor ist er an der Universität Bremen tätig und leitet am Alfred-Wegener-Institut die Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas.
Verwendete Quellen
- Telefoninterview mit Prof. Dr. Gerrit Lohmann
- dpg-physik.de: "Globale Erwärmung beschleunigt sich - Ein Aufruf zu entschlossenem Handeln"
- ipcc.de: "Sechster IPCC-Sachstandsbericht – AR6"
- tagesschau.de: "Appell von Wissenschaftlern: Beschleunigt sich die Erderwärmung