Nach dem Putsch folgt die Reaktion. Viele Experten sind sich einig, dass der türkische Präsident Erdogan jetzt seine Macht systematisch ausbauen wird - und den Umbau der Türkei in eine präsidiale Diktatur betreiben könnte. Die Folgen dieser Entwicklung würden nicht nur Europa treffen.

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Wie sehr er persönlich daran glaubt, dass der gescheiterte Putsch seinen eigenen Plänen nutzt, äußerte der türkische Präsident Erdogan bereits einen Tag später ziemlich ungeniert. "Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk Gottes", sagte er am Samstag bei seiner Ankunft am Istanbuler Atatürk-Flughafen. Denn der Putsch gebe ihm "die Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern".

Jene, die sich an dem Coup beteiligt hätten, seien "Terroristen". Wer genau zu diesen "Terroristen" gehöre, darüber zeigte sich seine Regierung erstaunlich gut informiert. Noch am Samstag präsentierte sie die Zahl von 3.000 festgenommenen Armeeangehörigen. Doch es blieb nicht bei Festnahmen von Militärs.

Fast 3.000 Richter abgesetzt

Ebenfalls am Samstag seien 2.745 Richter abgesetzt sowie fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara vom Dienst entbunden worden, teilte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu mit. Laut dem türkischen Privatfernsehsender NTV soll auch der Verfassungsrichter Alparslan Altan verhaftet worden sein, was besonders pikant ist.

Denn das türkische Verfassungsgericht mit seinen 17 Richtern gilt als ein Gegengewicht zur liberal-konservativen Bewegung Erdogans. Der türkische Präsident benutzt das "Geschenk Gottes" ganz offensichtlich dazu, unliebsame Gegner aus allen Teilen der Gesellschaft loszuwerden - und beschränkt sich in seiner Reaktion auf den Putsch keinesfalls auf Angehörige des Militärs.

Experte: "Das wird Erdogans Durchmarsch zur Diktatur"

Im Gegenteil: Viele Experten glauben, dass Erdogan jetzt jenen Umbau des Staates vorantreiben wird, den er schon seit Längerem plant - und für den ihm bislang demokratische Hürden und die türkische Verfassung im Weg standen. "Das wird Erdogans Durchmarsch zur Diktatur und ihn zum Alleinherrscher machen", glaubt Dr. Burak Çopur von der Universität Duisburg-Essen. "Dieser Putschversuch stärkt nur einen: Staatspräsident Erdogan", betont der Türkeiexperte auf "bild.de". Seine Prognose für die Zukunft des Landes fällt sehr düster aus. Erdogan werde sich jetzt "als Demokratie-Held auf den Plätzen feiern" und den "großen Demokraten geben, der er nicht ist". Er werde "die Situation ausnutzen, um das Präsidialsystem vom Parlament oder vom Volk beschließen zu lassen. Notfalls mit Neuwahlen", glaubt Çopur.

Vollendet Erdogan jetzt die Gleichschaltung der Justiz?

Dass Erdogan den Putsch gezielt für seine Pläne ausnutzt, beobachtet auch der Soziologe Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die Pläne für eine Entmachtung des Justizapparates habe der Präsident bereits vor den Ereignissen am Wochenende verfolgt. "Es gab bereits vor dem Putsch eine Gesetzesvorlage, um die Anzahl der Richter und Kammern am Kassationsgerichtshof um die Hälfte zu reduzieren und so die Zusammensetzung der Richterschaft dort im Sinne der Regierung zu gestalten", sagte der Türkei-Experte in einem Interview mit der "taz". Dieser Entwurf sei zwar bisher noch nicht verabschiedet, die Umsetzung werde aber mit der Verhaftungs- und Entlassungswelle vorweggenommen. Und die frei werdenden Stellen würden mit Sicherheit mit regierungsnahen Kandidaten besetzt, glaubt Seufert. Auf die Frage, ob Erdogan damit die Gleichschaltung der Justiz vorantreibe, reagiert der Experte mit einer pessimistischen Feststellung. Die Gleichschaltung werde nicht nur befördert, "sie wird zum Abschluss gebracht", glaubt Seufert.

Experte: Erdogan kann nicht mehr zurück

Sicher ist: Die Entmachtung der Justiz hat mit der Entlassung der Richter bereits begonnen. Und der Umbau der parlamentarischen Demokratie in ein präsidiales System mit diktatorischen Zügen könnte sehr bald folgen. Bisher stand diesem Plan Erdogans noch die Verfassung im Weg, die nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament geändert werden kann. Jetzt könnte er die erforderlichen Stimmen schnell bekommen, glaubt Experte Çopur - und dann ähnlich wie ein Diktator das Land beherrschen. Dass die Türkei unter einem Alleinherrscher Erdogan den bereits in der Vergangenheit eingeschlagenen Weg einer zunehmenden Islamisierung weiter fortsetzen würde, gilt als sehr wahrscheinlich.

"Er kann auch nicht mehr zurück in eine funktionierende Demokratie mit Gewaltenteilung", betont der Orient-Experte Udo Steinbach im Interview mit "merkur.de". Denn das würde nach Meinung des Islamwissenschaftlers bedeuten, "dass Erdogan seine Vision einer neuen Türkei aufgeben muss, und dass er und seine Leute wegen Korruption vor den Kadi gezerrt werden würden". Folgt man dieser Interpretation der Ereignisse, wäre der türkische Präsident längst zum Gefangenen seiner eigenen Strategie geworden.

Die EU-Staatschefs könnten einen wichtigen Partner verlieren

Die Konsequenzen für die EU sind bereits heute zu besichtigen. Für die EU-Staatschefs ist die Türkei bislang ein wichtiger Partner - zum Beispiel im Umgang mit den nach Europa flüchtenden Menschen - und sogar ein möglicher Beitrittskandidat. Jetzt redet dieser Partner öffentlich von einer Wiedereinführung der Todesstrafe für die Putschisten. Damit wären die Beitrittsverhandlungen beendet, sagte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin und rief den türkischen Präsidenten zur Mäßigung auf. Vertreter aus anderen EU-Staaten stimmen mit ihm überein: Ein Land mit der Todesstrafe kann kein EU-Mitglied werden.

Gleichzeitig äußert ausgerechnet EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn einen Verdacht, der in jedem Fall gegen einen Beitritt des Landes sprechen könnte, auch wenn die Todesstrafe letztlich, aus Rücksicht auf die Verhandlungen, doch nicht eingeführt werden sollte. "Es sieht jedenfalls so aus, als sei das geplant gewesen. Dass die Liste mit den zu Verhaftenden so schnell nach dem Putsch vorlag, deutet darauf hin, dass sie schon vorbereitet waren und dass ein bestimmter Moment genutzt werden soll", sagte Hahn laut einem Bericht auf "tagesschau.de". Vor allem die schnelle Verhaftung hunderter Richter und Staatsanwälte stehe nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, wird Hahn zitiert.

Auch in der NATO droht der Türkei die Isolation

Damit stünden nicht nur der mögliche Beitritt der Türkei zur EU und die europäische Flüchtlingspolitik zur Disposition, sondern es droht auch eine Isolierung der Türkei innerhalb der NATO. Denn der Staatenbund versteht sich grundsätzlich nicht nur als Verteidigungsbündnis, sondern auch als Wertegemeinschaft. Ein Staat, in dem die Rechtsstaatlichkeit zu Gunsten einer präsidialen Diktatur immer weiter ausgehöhlt wird, passt kaum in diese Runde. Gleichzeitig braucht die Staatengemeinschaft in der Türkei einen verlässlichen Partner, zum Beispiel im Kampf gegen die IS-Miliz. Wohin die Folgen des Putsches nicht nur die Türkei, sondern auch Europa und die ganze Welt führen könnten, ist heute noch nicht abzusehen. Sicher ist nur: Ein lokales Ereignis bleiben die Ereignisse am Bosporus mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.

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