- Eine Studie der Universität Basel kommt zu dem Schluss: Es ist kein Zufall, dass die Impfquoten in Deutschland, Österreich und der Schweiz so niedrig sind – sie sind auf Gemeinsamkeiten im deutschsprachigen Kulturraum zurückzuführen.
- Typische Merkmale der Maßnahmen-Gegner: Sie kommen aus der Mittelschicht, sind eher älter und akademisch gebildet.
- Im Interview spricht Sozialwissenschaftler Berthold Vogel über politische Traditionen, eine Gruppe, an der sich der Staat die Zähne ausbeißt und Spielräume für die Regierung.
Eine Studie aus Basel kommt zu dem Schluss, dass die niedrigen Impfquoten in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf gewisse Gemeinsamkeiten im Kulturraum zurückzuführen sind. Während Portugal und Irland beispielsweise Impfquoten von weit über 70 Prozent haben, liegt sie in den anderen drei genannten Ländern erst zwischen knapp 65 und 68 Prozent. Woran könnte das liegen?
Bertold Vogel: Die niedrigen Impfquoten sind tatsächlich auffällig. In Deutschland gilt das in besonderem Maße für die süddeutschen Länder bzw. für die Freistaaten, also gerade Bayern, Sachsen und Thüringen. Dort ist die Impfbereitschaft auch geringer als in den anderen Bundesländern. Eine Rolle könnte spielen, dass wir es hier mit spezifischen Kulturräumen und politischen Traditionen zu tun haben. Diese sind stark lokal und kommunal geprägt, mit starken Vorbehalten gegenüber zentralstaatlichen Richtlinien. In der Schweiz will sich beispielsweise der Kanton keine Vorschriften von Bern machen lassen, ähnlich argumentieren Impfgegner in Sachsen mit Blick auf Berlin.
Ganz anders also beispielsweise, als im stark zentralistischen Frankreich?
Exakt, einen weiteren Kontrast bildet beispielsweise Spanien, das eine konfliktreiche Zentralisierungsgeschichte hat. Es gibt erhebliche Fliehkräfte, auf regionaler Ebene, z.B. im Baskenland und Katalonien, aber die politische Kultur ist dennoch zentralistischer und nicht so stark in kommunalen Traditionen verhaftet. Die Impfquote in Frankreich und Spanien liegt bei mehr als 80 Prozent. Die politische Kultur allein erklärt gewiss nicht alles, aber sie spielt eine Rolle, die wir oft unterschätzen.
Dr. Vogel: "Die Impfgegner sind durch ihre Kampagne laut wie nie"
Die politischen Systeme unterscheiden sich aber – Deutschland und Österreich haben eine repräsentative Demokratie, die Schweiz eine direkte. Sind die Impfgegner in der Schweiz deshalb noch einmal deutlich lauter? Immerhin boykottierten dort Impfgegner Konzerte und verweigerten Impfbussen die Durchfahrt...
Es passt zumindest dazu, dass die Schweizer sehr stark in kleinteiligen, kantonalen Strukturen organisiert sind und in Entscheidungen miteinbezogen werden wollen. Das ist ja prinzipiell eine gute Sache, aber in Zeiten einer Pandemie vielleicht nicht das richtige Rezept. In der Ostschweiz liegt die Impfquote zum Teil nur bei etwa 45 Prozent. Die plebiszitäre Demokratie wirkt aktuell nicht integrativ, sondern wie ein Impfverweigerungsverstärker, der soziale Spaltungen vertieft. Die Volksabstimmung zur Impfpolitik Ende November ist exemplarisch. Die Impfgegner sind in und durch diese Kampagne laut wie noch nie und die offizielle Bundespolitik wirkt dagegen blass.
Gibt es weitere Aspekte, die die niedrigen Impfquoten in diesem Kulturraum erklären?
Es gibt bestimmte weltanschauliche Traditionen, die sich im gesamten Kulturraum finden – etwa die anthroposophische Denkrichtung. Das prägt ein soziales Klima. Auch die Freikirchen haben von Beginn der Pandemie an gegen die zentralstaatliche Bekämpfung argumentiert und – mit Verlaub – eine sehr negative Rolle gespielt. Das war besonders in den USA und Brasilien zu spüren. Die Amtskirchen sind dagegen seit Beginn der Pandemie sehr loyal gegenüber der staatlichen Politik der Pandemiebekämpfung. Diese Mischung von Weltanschauungen führt neben anderen Faktoren dazu, dass wir in Teilen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs zum Teil recht ähnliche Phänomene beobachten – eine geradezu ideologische Ablehnung einer öffentlichen Gesundheitspolitik.
Die eingangs genannte Studie kommt zu dem Schluss, dass die typischen Angehörigen der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen aus der Mittelschicht kommen und eher älter sowie akademisch gebildet sind. Überrascht Sie das?
Nein, die ganzen wütenden Mails, die mich erreichen, sind vom Duktus her definitiv akademisch. Die Corona-Kritik kommt nicht von den Außenseitern der Gesellschaft, sondern aus ihrer Mitte heraus. Es sind nicht die Abgehängten, die sich nicht impfen lassen! Das ist eine falsche Optik, es ist nicht der soziale Graben, der den Unterschied macht. Gerade die akademischen Bildungsschichten haben eine gewisse Wirkmächtigkeit mit eigenen Netzen, Strukturen und Informationskanälen. Von den Rändern der Gesellschaft aus wäre eine solche Beeinflussung des Diskurses gar nicht möglich.
Die Baseler Forscher kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass die Gegner in sich heterogen, aber nach rechts offen und vom politischen System stark entfremdet sind. Was macht man nun mit dieser Erkenntnis?
Es ist schwierig. In Blick auf das Impfen kommen wir an bestimmte Gruppen nicht heran. Sie sind sehr meinungsstark und präsent. Daten zeigen, dass die Hälfte derjenigen, die aktuell nicht geimpft sind, dies aus weltanschaulichen und politischen Gründen verweigern. In Bezug auf diese Gruppe kann man aktuell nur eine Eindämmungsstrategie fahren und dafür in den Bereichen der Gesellschaft für Impfungen werben, in denen sich Menschen impfen lassen würden, aber bislang noch nicht erreicht worden sind. Bei dem harten Kern ist es sehr schwierig, da beißt sich auch die Politik die Zähne aus...
"Kommunikation zählt und hier hat die Politik viele Möglichkeiten liegen lassen"
In einer Umfrage, die die Baseler Forscher im Zuge ihrer Studie durchgeführt haben, stimmten 74 Prozent der Aussage zu "Der Staat bevormundet uns immer mehr". Hätten die Maßnahmen anders kommuniziert werden müssen?
Definitiv. Kommunikation zählt und hier hat die Politik viele Möglichkeiten liegen lassen. Es fehlen alters- und zielgruppengerechte Impfkampagnen. Soziale Medien überlässt man denen, die Falschmeldungen und Hetze verbreiten. Eigentlich reibt man sich verwundert die Augen, dass weite Teile der Politik – nicht alle – hier so halbherzig und oftmals geradezu dilettantisch reagiert haben.
Kommt man mit einer Impfpflicht weiter?
Ja, auch wenn das den Widerstand von lauten Minderheiten hervorrufen würde. Aber deren Verweigerungshaltung und politisches Querulantentum kann doch um Himmels Willen nicht der Maßstab sein. Vieles spricht dafür, dass die Impfpflicht am Ende die einzige Möglichkeit ist, sich nicht von einer Infektionswelle zur nächsten treiben zu lassen. Wir sind aktuell in einer extrem prekären Situation, dass wir es nicht von Beginn an gewagt haben, überhaupt über eine Impfpflicht zu diskutieren. Es war ein erheblicher politischer Fehler, zu sagen, dass es nie eine Impfpflicht geben wird – von dieser Position kommt man schwer wieder weg. Zumindest sektoral muss sofort eine Impfpflicht durchgesetzt werden, es kann nicht sein, dass Menschen in sensiblen Bereichen immer noch ungeimpft sind.
Spaltet das nicht die Gesellschaft?
Das Argument kommt immer wieder, aber die Frustration bei denen, die sich haben impfen lassen, die sich an Regeln halten und solidarisch waren, hat ein viel stärker gesellschaftsspaltendes Potenzial, als mit dem harten Kern zu leben, der sich nicht impfen lassen will. Die Nachsicht mit den Unsolidarischen erreicht gerade ihre Grenze. Und das ist nicht überraschend, denn das, was wir aktuell erleben, war definitiv vermeidbar.
Was ist mit dem Teil, der über die staatliche Gesundheitspolitik noch erreichbar ist?
Das sind zum einen Menschen ohne große soziale Bindung, die wenig Kontakte haben und bislang keine richtige Veranlassung gesehen haben, sich impfen zu lassen. Einige wird die 2G-Regel jetzt noch zum Impfen motivieren. Es gibt auch eine überwiegend migrantische Gruppe, die im Hintergrund lebt und Angst hat, mit öffentlichen Stellen in Kontakt zu kommen. Diese Menschen fürchten, bei der Wahrnehmung eines Impfangebotes werde ihr Aufenthalts- oder Arbeitsstatus geprüft. Bei all den genannten Gruppen ist noch ein Spielraum für die Politik.
Auch wenn der deutschsprachige Kulturraum Gemeinsamkeiten aufweist – die politischen Maßnahmen unterscheiden sich: Österreich führt nun eine Impfpflicht ein, in der Schweiz sind die Maßnahmen vergleichsweise mild gewesen – hier gab es beispielsweise nur kurze Schulschließungen und keine Ausgangssperren. Gibt es hier etwas, was Deutschland von seinen Nachbarländern lernen kann?
Österreich handelt in höchster Not, die Situation in der Schweiz ist prekär. Lernen sollte Deutschland eher von den romanischen Ländern, von Spanien und Portugal, von Italien und Frankreich. Hier wurde politisch konsequenter gehandelt und offenbar auch die Gesellschaft als Ganzes stärker angesprochen.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Prof. Dr. Berthold Vogel
- Universität Basel: Politische Soziologie der Corona-Proteste
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