Alle größeren Umfragen sehen Joe Biden als Sieger der Wahl im November. Doch auch 2016 sahen die Meinungsforscher die Demokraten vorne – am Ende gewann Donald Trump. Politikwissenschaftler Josef Braml spricht über die Eigenheiten der US-Wahlforschung und die Wahrscheinlichkeit einer Wiederwahl Trumps.

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"Clinton wird spielend gewinnen", titelte die US-Zeitung "The Hill" 2016 bereits Monate vor der Wahl. Auch nahezu alle Umfrageinstitute waren sich einig: Die Nachfolgerin von Barack Obama im Präsidentenamt wird Hillary Clinton heißen.

Bekanntlich kam alles ganz anders. Nicht Clinton, sondern Donald Trump wurde als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Schaut man aktuell auf die aktuellen Meinungsumfragen und die Titelseiten der US-Medien, scheint es ein ähnliches Bild zu geben: Biden wird Trump die Wiederwahl vereiteln. Wiederholt sich gerade die Geschichte?

Unsere Redaktion hat Politikwissenschaftler Josef Braml gefragt, welche Unwägbarkeiten US-Umfragen haben, welche Alternativen es gibt und welchen Ausgang er für der Abstimmung im November am wahrscheinlichsten hält.

Dass Biden Präsident wird, prognostizieren gerade alle größeren Umfrage-Institute von "Emerson", "You Gov", "RMG Research" bis "Quinnipiac". Droht wieder die Gefahr, dass sie alle falsch liegen?

Natürlich. Die Möglichkeit ist allein deshalb gegeben, weil viele, die die Umfragen lesen, eins nicht verstehen: Es handelt sich um Momentaufnahmen.

In den USA – einem Land mit fast 330 Millionen Einwohnern und 50 kulturell teils deutlich unterschiedlichen Staaten – gibt es fast täglich neue Ereignisse, die wahlentscheidend sein können. Schon Politiker Harold Wilson sagte: "Eine Woche ist in der Politik eine sehr lange Zeit." Und so ist es auch: Bis zur Wahl im November ist noch Zeit.

Es kann also noch viel passieren, der Blick auf die Umfragen ist zu früh?

So ist es. Die Karten können sich durch innen- oder außenpolitische Ereignisse jederzeit neu mischen. Und: Schon Barack Obama warnte: "Don’t underestimate Joe’s ability to fuck things up" – man sollte also nicht Joe Bidens Fähigkeit unterschätzen, Dinge zu vermasseln. Biden kann bereits auf mehrere erfolglose Präsidentschaftskandidaturen zurückblicken. In diesem Wahlkampf gab es noch kein Fernsehduell, und Biden gilt nicht gerade als der Schlagfertigste.

"In den USA entscheiden nicht die Mehrheit der Wählerstimmen die Wahl"

Trotzdem scheint das Wahlergebnis in den USA stets eine Wundertüte zu sein. Warum sind verlässliche Prognosen in den USA so schwierig?

Das US-amerikanische Wahlsystem unterscheidet sich von unserem System – das stellt auch die Demoskopie vor andere Herausforderungen. In den USA entscheiden nicht die Mehrheit der Wählerstimmen die Wahl, sondern die Wahlmänner und -frauen, die von den Bundesstaaten entsandt werden. Der Kandidat, der die Mehrheit der Wählerstimmen in einem Bundesstaat bekommt, erhält nach dem "winner takes it all"-Prinzip alle Wahlleute des Staates.

... so kann es sein, dass am Ende der Kandidat, der absolut mehr Wählerstimmen bekommen hat, trotzdem nicht als Sieger vom Platz geht. So wie 2016: Trump verfehlte die Stimmenmehrheit des Volkes, erhielt fast drei Millionen Stimmen weniger als Clinton und wurde dennoch Präsident. Fordert das Wahlforscher heraus?

In diesem Wahlsystem sind immer nur wenige hart umkämpfte Staaten, sogenannte Battleground States, entscheidend. Dieses Mal zählen zu den Battleground States Florida, Pennsylvania, Ohio, Michigan, Wisconsin, Minnesota, Arizona, Georgia, North Carolina und Texas.

Die Kandidaten investieren Zeit und Geld in diesen wenigen Staaten, während die übrigen Staaten im Wahlkampf vernachlässigt werden können. Deshalb sollte man bei Umfragen die hart umkämpften Einzelstaaten analysieren. Wer auf landesweite Durchschnittsumfragen schaut, wie die Seite "RealClearPolitics" sie herausgibt, hat das US-Wahlsystem nicht verstanden.

"Viele sagen nicht, dass sie für einen Rassisten wie Trump stimmen werden"

Dabei kommt Trump aktuell auf durchschnittlich 43 Prozent der Wählerstimmen, Biden auf 49,6 Prozent. Aber auch wenn man die Umfragen der einzelnen Institute vergleicht: Der Vorsprung Bidens fällt unterschiedlich aus: Er reicht von plus einem bis plus zehn Prozentpunkten. Einzig und allein "Rasmussen Reports" sah Trump zeitweise mit einem Prozentpunkt im Rennen vorne. Woran liegt das?

Wir haben es mit Menschen zu tun, die die Umfragen beantworten. Viele sagen einem Interviewer gegenüber nicht, was sie im stillen Wahlkämmerlein wirklich machen, etwa, dass sie für einen Rassisten wie Trump stimmen werden. Das erklärt teilweise, warum Trump in den persönlichen und telefonischen Umfragen schlechter abschneidet als bei anonymeren Frageformen.

Tatsächlich attestiert die Umfrage von NBC News und dem "Wall Street Journal", welche Wähler telefonisch befragte, Biden mit plus acht Prozentpunkten einen deutlich größeren Vorsprung als "Rasmussen Reports“ (+1) oder Emerson (+4), die mit Online-Fragebögen gearbeitet haben. Die Umfragemethode – persönlich, telefonisch, online – hat also Einfluss auf die Prognose?

Ja, viele schämen sich dann eben doch, offen zuzugeben, dass sie Trump wählen.

Aber noch weitere Aspekte erschweren zielgenaue Prognosen: Viele Wähler trauen den etablierten Medien, in deren Auftrag die Umfragen oft durchgeführt werden, nicht. Sie halten sie für Fake News, sehen sie als Teil des Establishments, das sie ablehnen – warum sollten sie denen ihr Innerstes preisgeben? Man darf auch nicht vergessen, dass Umfrageergebnisse stets der Interpretation bedürfen. Es handelt sich um Stimmungsbilder und nicht um an Sicherheit grenzende Prognosen.

"Journalisten sollten die eigene Blase verlassen"

Passend dazu schreibt der "Stern": "Über die letzte US-Wahl hält sich hartnäckig die Legende, dass die damaligen Umfragen völlig danebenlagen." Das stimme nicht – geirrt hätten sich die zahleninterpretierenden Journalisten und Experten. Was raten Sie ihnen?

Sie sollten die eigene Blase verlassen, sich im Land einen eigenen Eindruck verschaffen und mit möglichst vielen Menschen reden, die nicht so ticken wie sie selbst. Wer sich 2016 diese Mühe machte, wusste, dass Trumps Chancen sehr gut waren. Die meisten damaligen Interpretationen gründeten auf Wunschdenken, Ignoranz und Arroganz.

Handelt es sich also allgemeint um Polit-Astrologie und die Beschäftigung mit Umfragen ist überflüssig?

Nein. Es macht schon Sinn, sich mit den Umfragen zu befassen – aber nicht nur und vor allem nicht zum falschen Zeitpunkt. Bei der Analyse der anstehenden Wahl sind andere Aspekte viel interessanter.

Welche sind das?

Das ist einerseits Trumps Strategie, rassistische Gewalt zu schüren. Sein Kalkül ist es, das Militär gezielt in Demonstrationen zu schicken, um Überreaktionen von Schwarzen zu provozieren. Dann kann Trump sich als Ordnungshüter präsentieren und die weiße Wählerschaft heiß machen. Gleichzeitig will er damit Bidens Unterstützung durch schwarze Wähler unterminieren. Denn wenn Schwarze bei Unruhen überreagieren, muss Biden sich davon distanzieren. Und wenn Biden nicht fest an ihrer Seite steht, werden Afroamerikaner bei den Wahlen zuhause bleiben. Trump verdankte seine Wahl mitunter der Tatsache, dass schwarze Wähler Hillary Clinton nicht in dem Maße unterstützt haben wie zuvor Barack Obama.

"Es ist nicht auszuschließen, dass die USA noch gegen den Iran vorgehen"

Worauf schauen Sie noch abseits der Umfragen?

Auf außenpolitische Entwicklungen, insbesondere hinsichtlich des Iran. Trump ist als Präsident auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Es ist nicht auszuschließen, dass die USA im Oktober noch mit Präventivschlägen gegen den Iran vorgehen. Das hätte eine patriotische Sammlungsbewegung zur Folge und vor allem auch Einfluss auf christlich-rechte, evangelikale und jüdische Wähler, die fest an der Seite Israels stehen.

Außerdem beobachte ich das Wahlverhalten von Frauen und welche Rolle die Abtreibungsdebatte und das Recht auf Waffenbesitz für sie spielen. In dieser Hinsicht haben die Demokraten bereits strategische Fehler gemacht. Die Nominierung der Abtreibungsbefürworterin Kamala Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin hilft Trump seine konservative Basis zu mobilisieren. Durch den Tod Ruth Bader Ginsburgs ist umso deutlicher geworden, dass der Präsident Richter an den Supreme Court nominieren kann, der bei Fragen von Abtreibung oder des Waffenbesitzes das letzte Wort hat.

Mit Ihrem Blick auf all diese Punkte: Wer wird im November die Nase vorn haben?

Sie können zum jetzigen Zeitpunkt eine Münze werfen, um die Chancen für Biden oder Trump einzuschätzen.

Eine weitere Möglichkeit gäbe es noch: Das "Primary Model" von Helmut Norpoth lag seit 1912 in 25 von 27 Wahlen richtig – auch 2016. Es bezieht in seine Kalkulation vor allem die Präsidentschaftsvorwahlen als Schlüssel für einen Wahlsieg mit ein. Biden konnte hier nicht klar überzeugen, lieferte sich ein enges Rennen mit Bernie Sanders und landete im traditionell wichtigen New Hampshire sogar nur auf dem fünften Platz. Trump gewann dort 2016 bequem – Norpoth errechnet ihm in diesem Jahr deshalb eine 91 prozentige Siegchance. Was halten Sie davon?

Die Erfolgsstatistik spricht für dieses Modell. Es gibt aber auch keine Sicherheit, denn schließlich lag man in zwei Wahlen falsch – und diese Möglichkeit sollte man auch immer mitbedenken.

Verwendete Quellen:

  • "The Hill": "Election Model: Clinton will win easily"
  • Website von "RealClearPolitics" mit landesweiten Umfragen
  • Umfrageergebnisse und Methode von NBC News/"Wall Street Journal", Emerson Polling und Rasmussen Reports
  • "The primary model", Webseite des US-Politikwissenschaftlers Helmut Norpoth
Über den Experten: Josef Braml ist Politikwissenschaftler und USA-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Aktuelle Analysen veröffentlicht er auf seinem seinen Blog.

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