Folter erschüttert die vietnamesische Gemeinde Berlins: Ein erstklassiges Team ermittelt in einem erstklassigen Fall.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es ist ein sonniger Tag in Berlin-Lichtenberg. Im Wohnzimmer eines unscheinbaren Einfamilienhauses liegt ein Toter. Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) und seine neue Kollegin Susanne Bonard (Corinna Harfouch) beginnen mit der Tatort-Begehung – und schnell zeigt sich, was diesen "Tatort" zu einem Highlight der Reihe machen wird. Die Ruhe. Die Zurückhaltung. Die Bilder.

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Karow und Bonnard nehmen sich Zeit. Sie öffnen Schränke. Sie blättern in herumliegenden Papieren. Sie setzen sich an den Esstisch, auf dem noch die letzte Mahlzeit von Hans Engler steht. Sie kommentieren das altmodische Festnetztelefon.

Ganz allmählich entsteht ein Bild des Opfers. Nicht nur von seinen letzten Minuten, sondern auch von seinem Leben. Offenbar nahm Hans Engler in seiner Freizeit gerne Videos auf VHS auf. "Willkommen in den Neunzigern!", sagt Robert Karow. Aber die Ironie wird ihm schnell vergehen.

Folterkammer im Einfamilienhaus

Denn als alle Türen geöffnet und alle Zimmer betreten sind, geht Karow in den Keller. Was das Team dort entdeckt, führt dazu, dass Susanne Bonard in den Garten wankt und sich zitternd ins Gras legt. Sie nennt Hans Engler nicht mehr beim Namen. Sie nennt ihn auch nicht das Opfer. Sie sagt "das Arschloch".

Eines, das bei seiner demenzkranken Mutter lebte und nebenbei eine Folterkammer betrieb. Das wahre Opfer ist auf der Flucht, nachdem es sich mit einem Messer und 19 Stichen gewehrt hat.

Auf dem Rückweg ins Kommissariat fahren Kommissarin und Kommissar in Karows Wagen durch die Waschanlage. Um Pollenstaub loszuwerden. Aber vor allem, um sich reinzuwaschen. Um die Bilder vor ihrem inneren Auge wegzuspülen. Die Waschstraße leuchtet blutrot, die riesigen Bürsten schrubben mit ersehnter Härte.

Bereits dem Münchner "Tatort: Schau mich an" war es ein Anliegen, von einer abscheulichen Gräueltat zu erzählen und dabei auf alle voyeuristischen Gruseleffekte zu verzichten. "Der Tag der wandernden Seelen" macht das besser und künstlerisch beeindruckender. Der Berliner "Tatort" hat nicht nur überzeugendere Darsteller, sondern auch eine stärkere Geschichte zu erzählen.

"Tatort"-Team ermittelt in vietnamesischer Gemeinde Berlins

Der Film nimmt so konsequent die Perspektive der Opfer ein, dass auch Bonard und Karow an ihre Grenzen geführt werden. Die ehemalige Lehrerin Susanne Bonard hadert mit der harten Realität, mit der sie nach ihrer Rückkehr in den Polizeialltag konfrontiert wird.

Robert Karow leidet weiterhin am Tod seiner Kollegin und seiner Jugendliebe. Als er sich Englers VHS-Kassetten ansehen muss, wappnet er sich mit einer Flasche Vodka. Man sieht nur Karows Gesicht und ist froh, dass man den Rest nicht sehen muss.

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Die Ermittlungen führen in die vietnamesische Gemeinde Berlins, nachdem eine DNA ergibt, dass es sich bei der Flüchtigen um eine Asiatin handelt. Der "Tatort" erzählt also nicht von der Suche nach einem Mörder, sondern davon, um Vertrauen zu ersuchen. Schließlich gibt es keinen Mord: Es war Notwehr, sagt Bonard, die Frau habe nichts zu befürchten.

Doch die vietnamesische LKA-Beamtin Pham Thi Mai (Trang le Hong) winkt ab: Eine traumatisierte und in vielfacher Hinsicht verletzte junge Frau in einem fremden Land – da geht eine Annäherung nur über ihre Community, von der sie sich mehr Schutz verspricht als von der deutschen Bürokratie.

Genaue Kenntnis der vietnamesischen Kultur und Community

"Der Tag der wandernden Seelen" ist der erste "Tatort" des rbb, der aus einem sogenannten Writers' Room hervorging. Das heißt, das Drehbuch von Josefine Scheffler und Regisseurin Mira Thiel geht auf die Ideen, Erfahrungen und Recherchen eines ganzen Teams zurück.

Das merkt man dem Film an, gerade weil man es ihm nicht anmerkt: Eine genaue Kenntnis der vietnamesischen Kultur und Community bildet das Fundament vom "Tag der wandernden Seelen", ohne zu sehr den folkloristischen Holzhammer zu schwingen. Die Suche nach und das Experimentieren mit Identität betrifft, von denen hier erzählt wird, betrifft Randgruppen wie Einwandererkinder, aber auch einen modernen Mann wie Karow, der seine Geschlechteridentität ganz lässig fließen lässt.

Immer vertrauter werden Robert Karow und Susanne Bonard mit den Schicksalen innerhalb der Gemeinde. Sicher, ohne ein wenig Buddha-Folklore kommt auch dieser Film nicht aus. Der weise Mönch darf ebenso wenig fehlen wie das von den Europäern bestaunte farbenfrohe Kulturfest. (Das Filmteam durfte an einem echten Vu Lan Fest teilnehmen, bei dem den Ahnen, den "wandernden Seelen", gedacht wird. Die im Film bedrohte Pagode der vietnamesischen Gemeinde Lichtenbergs gibt es wirklich.)

Im Zentrum aber stehen komplexe Figuren – die LKA-Beamtin der "next generation" zum Beispiel. Dualistische Weltbilder findet Pham Thi Mai "mega oldschool", den strengen Benimmregeln, die im Land ihrer Eltern gelten, folgt sie allerdings widerstandslos und nimmt es hin, dass es zwischen den Menschen aus Süd- und Nordvietnam ebenso prägende Unterschiede gibt wie zwischen Ost- und Westdeutschland.

Oder die spannendste Figur der Folge: Tierärztin Lê Müller (Mai-Phuong Kollath). Ihr Name spiegelt ihre ganze Gegensätzlichkeit. Sie war auf einem Foto in Englers Wohnung zu sehen und nennt ihn einen alten Freund, dem sie viel zu verdanken habe. Hilft sie oder behindert sie? Ist sie eine Samariterin, die neben Tieren auch dokumentlose Vietnamesen behandelt? Komplizin eines Psychopathen? Respektierte Patriarchin der vietnamesischen Gemeinde, womöglich mit mafiösen Verbindungen?

Bonard als Gegenpol zu Karow

Und nicht zuletzt profitiert "Der Tag der wandernden Seelen" von zwei Darstellern, die sich gegenüber all die Exotik locker behaupten können. Mark Waschke ist wieder herausragend, und Corinna Harfouch kann sich ein zurückhaltendes Spiel leisten, ohne im Hintergrund zu verschwinden. Ihre Susanne Bonard ist der ruhige Gegenpol Waschkes Intensität als Robert Karow.

Er sei "nicht so der soziale Typ", sagt Karow, aber ran an die Menschen kommt er mit seiner smarten Durchlässigkeit trotzdem. Kollegin Bonard nähert sich ihren Mitmenschen dagegen geradezu mütterlich, mal mit unpassenden Berührungen, mal mit anrührendem Mitgefühl.

Auch wenn man nicht unbedingt von Teamarbeit sprechen kann: Ein erstklassiges Team geben die beiden in ihrem erstklassigen zweiten Fall ab.

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