Innerhalb der EU sind die Erwartungen an den neuen Bundeskanzler hoch. Mit dem einstigen Europaabgeordneten hofft man in schwierigen Zeiten auf eine deutsche Führungsrolle.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Katharina Ahnefeld sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist der 48. Geburtstag von Kaja Kallas, aber zum Feiern bleibt keine Zeit. Kurz nimmt die EU-Außenbeauftrage die Glückwünsche von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen entgegen, dann widmet sie sich wieder dem dringenden Tagesgeschäft. Die EU steht in Zeiten globaler Krisen unter Handlungszwang.

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Im Vorfeld des in dieser Woche stattgefundenen Gipfel-Marathons in Den Haag und Brüssel sind die Europaabgeordneten in Straßburg zusammengekommen, um über Sicherheitspolitik und Verteidigungszusammenarbeit zu diskutieren. Die EU-Länder müssen sich sicherheitspolitisch neu aufstellen und enger kooperieren, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Eine Herkulesaufgabe – insbesondere angesichts einer zunehmend fragmentierten Gemeinschaft.

Das weiß auch Kallas und betont im EU-Parlament: "Die Wahrung der Einheit des Bündnisses ist ebenso wichtig wie die Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Ich glaube nicht, dass es eine Bedrohung gibt, die wir nicht überwinden können, wenn wir gemeinsam und mit unseren Nato-Verbündeten handeln."

Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz präsentiert sich als Internationalist

Gemeinsam als Europäische Union zu handeln, ist tatsächlich dringend geboten. Die Probleme häufen sich angesichts der volatilen Weltlage. Mehr denn je scheint ein eigenständiges und wehrhaftes Europa notwendig, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Entfremdung von den USA. Der Blick richtet sich auf die wirtschaftlichen und politischen Schwergewichte der Europäischen Union. Und damit auf Deutschland. Viele Länder hoffen - gemeinsam mit Frankreich - auf eine neue deutsche Führungsrolle innerhalb der Gemeinschaft.

Friedrich Merz hatte diese "Rückkehr" Deutschlands in die EU zu Beginn seiner Kanzlerschaft versprochen. Und auch kürzlich in seiner Regierungserklärung sagte der ehemalige Europaabgeordnete im Bundestag: Deutschland sei "wieder zurück auf der europäischen und internationalen Bühne". Merz präsentiert sich ­­– wie hier ­­– gerne als Internationalist. Die aktuellen Gipfel-Treffen nannte er eine "gute Abfolge in dieser Woche, von Den Haag nach Brüssel zu gehen und dann die europäischen Schlussfolgerungen zu ziehen." Der Bundeskanzler als Außenkanzler, analysierte das "European Council on Foreign Relations" in einem Paper.

Worte allein genügen aber nicht. Zuletzt hatten für viele selbst diese gefehlt. "Scholz war der große Schweiger, der eher ein Wort zu wenig als ein Wort zu viel sagt. Merz hingegen ist der, der eher ein Wort zu viel sagt", sagt Politologe Josef Janning von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin unserer Redaktion. In den vergangenen Jahren sei die Führungsabsenz Deutschlands besonders spürbar gewesen – das Land habe sich zwar beteiligt, aber ohne zu lenken oder weiterreichende Vorstellungen zu entwickeln. "Wenn Merz nun dieses Führungsinteresse Deutschlands ausspricht, kündigt er an, dass Deutschland zu dieser Baumeisterrolle zurückkehren möchte, die die deutsche Europapolitik über viele Jahre ausgezeichnet hat."

Große Erwartungen: Mögliche europäische Verteidigungs-Kooperation

Die Erwartungen sind dementsprechend hoch. Doch über die Ausgestaltung einer deutschen Führungsrolle herrscht kein Konsens. "Einige Länder erwarten einen weniger restriktiven Umgang mit dem Thema Schuldenfinanzierung. Andere Länder im Nordosten der EU hoffen auf ein sehr viel stärkeres Engagement Deutschlands bei der Verteidigung Europas", sagt Janning. Die Haltung sei, dass Deutschland nicht nur mehr Geld für die eigene Verteidigung ausgeben müsse, sondern für eine Verteidigung, an der andere Länder andocken könnten.

Für Merz stellt sich jedoch ein Problem: Eine solche Verteidigungs-Kooperation erfordere nicht nur nationale Anstrengungen, sondern eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich und Polen. Mit dem neuen polnischen Präsidenten kaum vorstellbar, erklärt Janning.

Aus EU-Kreisen ist indes zu hören, dass allein die Reform der Schuldenbremse Hoffnung auf ein aktiveres und investitionsfreudigeres Deutschland schüre. Auch über ein Ende des verhassten "German Vote" wird spekuliert. Thu Nguyen, Expertin für europäisches Recht, erklärte dieses europäische Schreckgespenst bei "ZDFheute" folgendermaßen: "Es ist das Phänomen, dass sich Deutschland in der Vergangenheit, schon unter der vorherigen Bundesregierung, oft in Brüssel enthalten hat, wenn es auf Bundesebene zwischen den Koalitionspartnern keine gemeinsame Linie gab."

Stichwort: Verbrenner-Aus, als der Kompromiss nach der Endabstimmung wieder kassiert wurde. So verfestigte sich der Eindruck, bei Deutschland nie genau zu wissen, woran man ist. Ob es tatsächlich das Ende des "German Vote" ist, bleibt abzuwarten. Auch in der neuen Koalition herrscht nicht überall Einigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber vor allem bei dem Thema Migration.

EU-Abgeordnete über Merz: Zwischen "Leadership" und Inkonsistenz

Hört man sich bei EU-Abgeordneten anderer Länder um, ist die Meinung über Merz gespalten. Aus der konservativen EVP-Familie gibt es Zustimmung. "Leadership bedeutet, Visionen zu teilen, Verbindungen herzustellen und dann gemeinsam voranzugehen. Der Vorgänger von Friedrich Merz hat das nicht in die Praxis umgesetzt. Merz dagegen hat bereits damit begonnen", lobt der österreichische Abgeordnete Lukas Mandl (ÖVP). Mandl setzt innerhalb der EU auf "einen starken deutschen Kanzler" und "die Achse mit Macron und Starmer". Friedrich Merz habe "das Zeug dazu, einer der historisch besonders geachteten deutschen Kanzler zu werden." Einzig der Koalitionspartner bereitet dem Konservativen Sorge.

Aus der Fraktion der Grünen ertönt hingegen der Vorwurf der Inkonsistenz. Der niederländische Co-Fraktionschef Bas Eickhout formuliert es so: "Seine Worte klingen zwar pro-europäisch, aber ihnen müssen noch echte pro-europäische Taten folgen. Ein Beispiel: Merz handelt in der Industriepolitik überhaupt nicht im europäischen Geist." Auch die deutschen Grenzkontrollen verärgern den Niederländer. Gleichzeitig betont Eickhout: "Eine starke Führung aus Deutschland ist für ein starkes und sicheres Europa unerlässlich. Merz' Ansatz im Umgang mit den USA in Fragen wie dem Handelskrieg und der Nato ist ein gutes Beispiel: Er scheint nun zu verstehen, dass Europa auf eigenen Füßen stehen muss und entsprechend handeln sollte."

Klar ist: An seinen Worten wird sich Merz künftig messen lassen müssen. Die Erwartungen an Deutschland sind hoch – und sie werden in diesen Krisenzeiten weiter steigen.

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Verwendete Quellen