Seit der Wahl vor einem Jahr gibt es im Europaparlament erstmals eine rechte Mehrheit. Die neuen Machtverhältnisse führen zu konservativerer Politik – wobei die wirklich großen Entscheidungen noch ausstehen.
Die Europawahl 2024 hat einiges durcheinandergewirbelt: Die konservative EVP (zu der aus Deutschland CDU und CSU gehören), vor allem aber die Fraktionen rechts von ihr, haben im Europaparlament deutlich dazugewonnen.
Das Rechtsaußen-Lager hat sich außerdem neu sortiert. Rechts der rechtspopulistischen EKR (Europäische Konservative und Reformer) gibt es jetzt nicht mehr eine, sondern zwei Fraktionen: PFE (Patrioten für Europa) und ESN (Europa der souveränen Nationen).

Das entscheidende: Zum ersten Mal in der Geschichte der EU kann die EVP seither Mehrheiten bilden, die Liberale, Sozialdemokraten, Grüne und Linke komplett außen vor lassen. Welche Folgen hatte dieser Rechtsruck bereits und wohin könnte er führen? Ein Rück- und Ausblick.
Hat die EVP schon mit Rechtsaußen gestimmt?
Ja. Die Fraktion ESN hat es geschafft, mindestens zwei Änderungsanträge einzubringen, die angenommen wurden. Der PFE gelang dies in mindestens neun Fällen (Stand Ende April), wie der Berliner Softwareentwickler Linus Hagemann mithilfe seines Tools howtheyvote.eu herausgefunden hat.
Unter den 1.254 namentlichen Abstimmungen des EU-Parlaments in dieser Legislatur (Stand Ende April) gab es demnach außerdem zwei finale Abstimmungen und 54 Änderungsanträge, die durch rechte Mehrheiten entschieden wurden.
Abstimmungsverhalten nachvollziehen mit howtheyvote.eu
- Das Tool howtheyvote.eu von Linus Hagemann und Till Prochaska erfasst alle namentlichen Abstimmungen des Europaparlaments.
- Es ermöglicht nachzuvollziehen, wie einzelne Abgeordnete abgestimmt haben und ermöglicht die Gruppierung nach Fraktionen und Mitgliedsstaaten.
- Die Auswertung liegt in der Regel eine Stunde nach Abstimmungsende vor.
- Das Tool ist kostenlos. Die Entwicklung wurde unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt.
Howtheyvote.eu erfasst nur die namentlichen und damit nur einen Teil der Abstimmungen (siehe Infobox). Da dieses bei Endabstimmungen vorgeschrieben sind und darüber hinaus von Fraktionen vor allem dann beantragt werden, wenn Entscheidungen besonders umstritten oder besonders symbolträchtig sind, ist das Bild aber durchaus aussagekräftig.
Nicolai von Ondarza, EU-Experte der Stiftung Wissenschaft- und Politik, resümiert im Gespräch mit unserer Redaktion: "Es ist immer noch die Ausnahme, dass die Mehrheit von Mitte rechts nach rechts außen genutzt wird. Aber es ist kein Einzelfall mehr."
Worum ging es in diesen Abstimmungen?
In einer der beiden Endabstimmungen haben die Abgeordneten die Umsetzungsfrist für die in der vergangenen Legislatur beschlossene Entwaldungsverordnung nach hinten verschoben.
Unternehmen, deren Produkte bestimmte Rohstoffe wie Soja, Kakao oder Holz enthalten, müssen somit erst ein Jahr später als ursprünglich geplant nachweisen, dass dafür keine Wälder illegal gerodet wurden. Von Ondarza sieht darin die weitreichendste Entscheidung, die mit Stimmen von Rechtsaußen gefällt wurde. Im zweiten Fall stimmte die EVP bei einer Resolution zur politischen Lage in Venezuela mit EKR und PFE.

Die genannten, von ESN eingebrachten Änderungsanträge, betrafen die Abstimmung über die politischen Leitlinien für den europäischen Haushalt 2025. Die Fraktion, zu der auch die AfD gehört, forderte darin eine "angemessene Finanzierung physischer Barrieren an den Außengrenzen der Union" und Asyleinrichtungen außerhalb der EU.
Letztlich blieb die Abstimmung wirkungslos, weil sich für die Gesamtheit der Leitlinien keine Mehrheit fand. Doch Sozialdemokraten, Grüne und Linke sahen den Beweis erbracht, dass die Brandmauer nicht hält. Die AfD jubelte: "Wir geben im EU-Parlament den Takt vor. Wir setzen die Themen. Wir bestimmen und verschieben den Diskurs", zitierte sie auf "X" ihren Vorsitzenden im EU-Parlament, René Aust.
Gab es keine Abstimmungen mit weitreichenderen Folgen?
Bislang nicht. "Modus operandi", der EVP sei derzeit, bei den großen Entscheidungen Mehrheiten in der Mitte zu suchen, in Einzelfällen aber auch mal mit Rechtsaußen abzustimmen, sagt von Ondarza.
Im zurückliegenden Jahr habe vor allem die Außen- und Verteidigungspolitik im Fokus gestanden, wo sich die Position der EVP stark mit der von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen überschneidet. "Die großen Gesetzgebungsentscheidungen stehen erst an, wenn die EU-Kommission größere Vorschläge vorgelegt hat. Dazu kommt es im ersten Jahr der Wahlperiode selten."
Der "große qualitative Unterschied" ist aus seiner Sicht, "dass Mittelrechtsparteien heute offen über die Zusammenarbeit mit Rechtsaußenparteien sprechen." EVP-Chef Manfred Weber sagt, er sei bereit, mit allen Parteien zusammenzuarbeiten, die pro EU, pro Ukraine und pro Rechtsstaatlichkeit sind. Das schließt für ihn die Parteien der EKR ein.
Ist auch die Kommission nach rechts gerückt?
Als einzige Institution mit dem Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen, fällt der Kommission viel Macht zu. Weil nach einer Wahl zum EU-Parlament der Kommissionspräsident neu gewählt und die Kommissare neu besetzt werden, können sich veränderte Mehrheitsverhältnisse auch hier zeigen.
Von Ondarza sieht bislang jedoch nur eine leichte Verschiebung. Ursula von der Leyen (CDU/EVP) blieb Kommissionspräsidentin, bestätigt von den Parteien der Mitte. Bei den Kommissaren, die von den Mitgliedsstaaten nominiert werden, gab es zwar grünes Licht für zwei umstrittene Personalien, Raffaele Fitto und Olivér Várhelyi.
Jedoch: Von Fitto aus der rechtsnationalen italienischen Regierungspartei Fratelli d'Italia, die zur EKR-Fraktion gehört, sei ihm bislang "keine Entscheidung bekannt, die einen großen Aufschrei verursacht hätte", sagt von Ondarza.
Und Várhelyi, Vertrauter von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und dessen Fidesz (PFE), der "in der letzten Legislatur als Kommissar für Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik extrem umstrittene Politik gemacht hat", wurde quasi strafversetzt: ins Ressort Gesundheit und Tierschutz, "was relativ unwichtig ist, weil die EU dort wenig Kompetenzen hat."
Die anderen Mitgliedstaaten, in denen Rechtsaußenparteien regieren oder mitregieren, hätten Kommissare aus der politischen Mitte vorgeschlagen.
Wie könnte es weitergehen?
Die Kommission hat die sogenannte Omnibus-Initiative gestartet. Sie umfasst mehrere Gesetzesvorhaben, die europäische Unternehmen durch Deregulierung und weniger Nachweispflichten wettbewerbsfähiger machen sollen.
Konkret hieße das: Weniger Nachhaltigkeitsberichterstattung, Abschwächung des Lieferkettengesetzes, Aufweichen der Standards für umweltfreundliche Investitionen. "Das ist sicher keine Rechtsaußen-Politik, aber eine deutliche Verschiebung nach rechts", sagt von Ondarza.
Gerade in der Wirtschafts- und in der Klimapolitik, werde sich die Frage nach der Zusammenarbeit mit EKR, PFE und ESN für die EVP immer wieder stellen. "Das kann bis zu ganz großen symbolischen Fragen gehen, wie der, ob das Verbrenneraus kippt."
Und dann ist da noch das Thema Migration. 2024 hatten sich die EU-Staaten nach jahrelangem Ringen auf ein Paket aus zehn Gesetzen für ein neues, gemeinsames Asylsystem geeinigt. Es soll jetzt nach und nach umgesetzt werden. Doch es gibt viele Stimmen, die eine Verschärfung fordern.
Weil EU-Politik immer ein Zusammenspiel von EU-Parlament und den Entwicklungen in den Mitgliedstaaten ist, schaut von Ondarza gespannt auf das "Entscheidungsjahr 2027", wie er es nennt. Dann sind Präsidentschaftswahlen in Frankreich und Parlamentswahlen in Polen. "Wenn in Frankreich der Kandidat des Rassemblement Nationale gewinnt und in Polen die PiS, hätten Konservative und Rechtsaußen eine schlagkräftige Mehrheit."
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Linus Hagemann und Auswertung von howtheyvote.eu
- Gespräch mit Nicolai von Ondarza, Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik
- Post der AFD im EU-Parlament vom 23. Oktober 2024