Elisabeth Seitz hat im Mai ihre erfolgreiche Turnkarriere beendet. Wir haben mit ihr über ihr neues Leben, ihre Ziele und das deutsche Turnen gesprochen.
Das Leben von
Sie selbst hat viele Ideen, was sie in der Zukunft machen könnte. Seitz möchte dabei dem Sport gerne treu bleiben, "weil ich ihn einfach so sehr liebe. Das Lehramtsstudium – Sport und Englisch – wäre die sichere Variante, aber eben nicht ganz so nah am Sportgeschehen. Mich zieht es eher zu Aufgaben, bei denen ich mitten im Sport bleibe", sagte sie im Interview mit unserer Redaktion.
Frau Seitz, nach dem Karriereende – was ist stressiger: das alte oder das neue Leben?
Elisabeth Seitz: Stressiger ist schwer zu definieren. Das neue Leben habe ich ja noch nicht so lange wie das alte, und es befindet sich gerade im Umschwung. Vieles kommt nach und nach, vor allem durch die Schwangerschaft. Das ist eine Umstellung, die nicht von heute auf morgen passiert. Auch im Kopf hat es nicht einfach Klick gemacht, dass ich von einem Tag auf den anderen keine Turnerin mehr war. Wenn ich es vergleiche, war das alte Leben insgesamt stressiger. Da ging es immer um Leistung, man musste jeden Tag körperlich und mental voll da sein, um sich für Wettkämpfe zu steigern. Trotzdem ist es auch jetzt eine stressige Zeit, weil man nicht einfach mit einem Kopfsprung ins neue Leben startet, sondern sich Schritt für Schritt hineinfinden muss.
Gibt es etwas, das Sie jetzt neu lernen müssen? Vielleicht, auch einfach mal faul zu sein?
Ja, definitiv. Früher war ein erfolgreicher Tag für mich einer, an dem ich viel und gut trainiert hatte. Heute sind andere Dinge wichtiger. Wenn ich jetzt Sport mache, ist das schön und tut mir gut, aber es ist nicht mehr mein Job und nicht mehr der Hauptbestandteil eines erfolgreichen Tages. Das ist eine große Umstellung: zu akzeptieren, dass ein Tag auch dann erfolgreich sein kann, wenn ich einfach mal faul bin.
Seitz: "Die Liebe zum Sport ist nach wie vor da"
Gibt es noch Momente der Wehmut oder überwiegt inzwischen die Erleichterung, dass der Rücktritt durch ist?
Wehmut spüre ich bisher nicht. Das liegt vermutlich daran, dass gerade so viel Neues auf mich zukommt und alles spannend ist. Der Stolz über das, was ich erreicht habe, überwiegt im Moment deutlich. Ich habe alles mitgenommen und ausgekostet, was in meinem Sport möglich war. Vielleicht brauche ich einfach noch etwas Zeit, um bewusst zurückzublicken und zu sagen: "Hey, das war toll, was ich alles erlebt und erreicht habe." Die Liebe zum Sport ist nach wie vor da. Deshalb kann es gut sein, dass irgendwann ein kleines bisschen Wehmut aufkommt. Aber dafür war bislang schlicht keine Zeit.
Wie gehen Sie das neue Leben denn konkret an?
Die größte Herausforderung ist, etwas Neues zu finden, bei dem ich sagen kann: Das ist mein Job für die nächsten 20, 30 Jahre. Ich studiere Lehramt und beende gerade meine Trainerausbildung. Ideen und Möglichkeiten habe ich viele. Jetzt geht es darum, das zu finden, was mich am meisten begeistert. Gleichzeitig kommt bald das Baby. Auch das ist eine völlig neue Erfahrung für mich.
Gibt es denn schon eine Richtung, die sich abzeichnet? Soll das Turnen fest zur Zukunft dazugehören?
Ja, mein Wunsch wäre, nah am Sport zu bleiben, weil ich ihn einfach so sehr liebe. Das Lehramtsstudium – Sport und Englisch – wäre die sichere Variante, aber eben nicht ganz so nah am Sportgeschehen. Mich zieht es eher zu Aufgaben, bei denen ich mitten im Sport bleibe: als ARD-Expertin, mit meinen Vorträgen, Trainingscamps oder Vereinsbesuchen. Welche Richtung es am Ende konkret wird, ist noch offen. Man möchte alles planen. Aber ich habe im Sport gelernt: Nicht alles ist planbar.
Wenn Sie könnten: Was würden Sie an den Strukturen im Turnen hierzulande verändern, um den Sport voranzubringen?
Grundsätzlich haben wir in Deutschland das Problem, dass zwar Medaillen erwartet werden, der Stellenwert des Sports aber insgesamt zu niedrig ist. Gerade im Turnen sehe ich riesiges Potenzial. Wir sind ein großer Verband, da sollte man noch stärker an die Kinder herantreten und ihnen zeigen, wie toll Turnen und Sport generell sind. Es geht darum, mehr Nachwuchs zu gewinnen, denn die Breite lebt von der Spitze und umgekehrt. Da gibt es noch viel Potenzial, das wir ausschöpfen können, damit wir nicht irgendwann dastehen und sagen: "Uns fehlen die Talente."
Nachwuchsprobleme haben auch andere Sportarten, und das Standing des Sports ist ja ein gesamtgesellschaftliches Problem. Müsste man da generell in den Schulen ansetzen?
Am besten schon im Kindergarten. Sport sollte insgesamt wieder viel mehr in den Vordergrund rücken. In meinem Lehramtsstudium und bei meinen Praktika habe ich gesehen: Wenn etwas ausfällt oder irgendwo gespart wird, steht der Sportunterricht oft ganz oben auf der Liste. Das darf nicht sein.
Seitz: So kann man das deutsche Turnen voranbringen
Wie kann man das noch fördern?
Es sollte viel stärker kooperiert werden zwischen Schulen und Vereinen, am besten so, dass jedes Kind einen Platz in einem Sportverein findet. Das hängt natürlich auch am Ehrenamt: Vereine brauchen genug engagierte Menschen, um viele Kinder aufnehmen und betreuen zu können. Ziel sollte sein, dass Kinder früh möglichst viele Sportarten ausprobieren können, um ihre Leidenschaft zu finden. Ich bin mir sicher, jedes Kind hat irgendwo ein schlummerndes Talent, das in Verbindung mit Sport steht.
Viel hängt auch an der medialen Aufmerksamkeit des Sports. Wie kann man die fürs Turnen erhöhen?
Wir haben schon viele gute Ansätze. Wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Medien, Sportart und Verband. Fußball ist ein Beispiel für eine Sportart, die leicht viele Menschen begeistert, denn sie ist schnell zu verstehen und erfordert keine volle Konzentration, um dem Geschehen zu folgen. Das hat nicht jede Sportart, Turnen zum Beispiel nicht. Deshalb sollte man Turnen für Zuschauer leichter verständlich machen und das Drumherum attraktiver gestalten. Handball macht es gut: Musik, Publikumsaktionen, ohne die Athleten zu stören, aber so, dass das Erlebnis runder wird.
Und im TV?
Auch da kann man ansetzen: weniger lange Pausen, weniger Unklarheiten während der Wertung, dafür mehr Fokus auf die spannenden Elemente und die schönen Seiten des Turnens. So wird die Sportart zugänglicher für Menschen, die sie nicht im Detail kennen. Und natürlich braucht es Stars und Vorbilder, an denen sich Kinder orientieren können. Das zieht Nachwuchs an und sorgt dafür, dass Zuschauer kommen.
Sie sind jetzt weg, aber ist Helen Kevric prädestiniert, in Ihre Fußstapfen zu treten?
Vom Talent her auf jeden Fall, ohne Zweifel. Aber wir haben zum Beispiel bei der EM in Leipzig auch gesehen, dass Karina Schönmaier ebenfalls großes Potenzial hat. Mir hat besonders gefallen, wie sie das Publikum mitgenommen hat. In einer Drucksituation noch zu klatschen, zu lächeln oder in die Kamera zu winken, erfordert Persönlichkeit. Und genau das brauchen wir: Personen, die als Vorbilder wirken.
Wofür dann wieder die Medien wichtig sind…
Genau. Wenn jemand Weltmeister wird, es aber kaum jemand mitbekommt, ist es schwer, diese Vorbildrolle auszufüllen. Hier braucht es mehr Zusammenarbeit, um solche Persönlichkeiten aufzubauen. Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren schon viel erreicht haben. Aber das sollte erst der Anfang sein. Wir brauchen viele Vorbilder, die Kinder für den Sport begeistern, und die großen Ereignisse wie Olympia 2028 sind dafür natürlich ein perfekter Rahmen.
Olympia 2028? Seitz ist optimistisch
Wie optimistisch sind Sie mit Blick auf die sportlichen Aussichten für 2028, wenn man den heutigen Stand betrachtet?
Gerade nach dem letzten Jahr mit Paris, wo es für das Team leider nicht geklappt hat, sollte man dem Ganzen mit Optimismus begegnen. Die Europameisterschaften in Leipzig haben gezeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. Natürlich kann in ein paar Jahren viel passieren. Aber ich hoffe, dass die verpasste Team-Qualifikation und die damit verbundene Krise im Turnen ein Ansatzpunkt sind, um gestärkt daraus hervorzugehen, sportlich und in allen anderen Bereichen. Der Optimismus ist bei mir auf jeden Fall da.
Sie hatten eine lange Karriere auf hohem Niveau. Das ist im Turnen nicht selbstverständlich. Was war der Schlüssel dafür?
Für mich war entscheidend, dass ich gerade in schwierigen Phasen und nach Rückschlägen den richtigen Umgang gefunden habe. Ich konnte in allem etwas Positives sehen und habe mir immer wieder neue Ziele gesetzt. Nach meinen sechs Fußoperationen war mein erstes Ziel jedes Mal: wieder laufen können. Da habe ich nicht an die nächste Weltmeisterschaft gedacht, sondern an kleine, erreichbare Schritte. Im Rückblick war genau das mein Erfolgsgeheimnis: kleine Ziele, stetige Motivation und die positive Einstellung, die ich nie verloren habe.
Bereuen Sie etwas? Gibt es etwas, das Sie im Nachhinein anders machen würden?
Vielleicht hätte ich noch etwas früher nach Stuttgart wechseln sollen. Ich bin sehr heimatverbunden und wollte eigentlich immer in der Mannheimer Umgebung bleiben, bei meiner Familie. Rückblickend hätte mir ein früherer Wechsel wohl eine gewisse Leidenszeit erspart. Aber ich verstehe mich auch: Ich wollte einfach gerne zu Hause bleiben. Grundsätzlich habe ich meinen Traum gelebt und zwar besser, als ich es mir je vorgestellt habe.
Sie halten Vorträge, um andere Menschen zu motivieren. Was kann man aus einer Leistungssportler-Karriere ins "normale Leben" übertragen?
Eigentlich fast alles, auch wenn es auf den ersten Blick sehr unterschiedlich wirkt. Eine Sportkarriere ist zeitlich begrenzt, und in dieser kurzen Phase erlebt man unglaublich viel: Erfolge, Rückschläge, hohen Leistungsdruck, den Zwang, zum richtigen Zeitpunkt bereit zu sein. Dieses ständige Auf und Ab in komprimierter Form erleben Sportler besonders intensiv. Aber im Grunde passiert das im normalen Leben auch: Es läuft nie alles geradlinig und perfekt, egal in welchem Alter. Das macht die Erfahrungen aus dem Sport so übertragbar.
Nachwuchs im Hause Seitz: Turnen wäre kein Problem
Sie werden im November Mama. Jeder Spitzensportler hat ja eine eigene Haltung dazu, ob der Nachwuchs in die eigenen Fußstapfen treten soll. Wie ist das bei Ihnen?
Unser Kind hat völlig freie Wahl, welchen Sport es macht. Nur in einer Sache gibt es keine Wahl: Es muss Sport treiben. Ich bin überzeugt, dass Sport so viel vermittelt. Nicht nur Werte, sondern auch Erlebnisse, Freundschaften, den Umgang mit Siegen und Niederlagen, Teamgeist. Auf welchem Niveau, in welcher Sportart oder in welchem Umfang es aktiv ist, bleibt völlig freigestellt.
Aber wenn es das Turnen werden sollte, wäre das auch in Ordnung?
Empfehlungen der Redaktion
Ja, das haben wir zu Hause schon besprochen. Das wäre überhaupt kein Problem. Ich würde mich natürlich freuen. Man weiß ja: Im Turnen fällt es leichter, wenn man von der Körpergröße her nicht ganz so groß ist. Deshalb sind Turnerinnen und Turner oft ähnlich gebaut. Nicht, weil der Sport klein macht, sondern weil kleinere Athleten gewisse Vorteile haben. Der Papa ist allerdings 1,95 Meter groß. Es könnte also auch gut in Richtung Basketball gehen (lacht).
Über die Gesprächspartnerin
- Elisabeth Seitz hat im Laufe ihrer Karriere vier EM- sowie eine WM-Medaille gewonnen und nahm an drei Olympischen Spielen teil. Dazu ist sie mit 26 Meistertiteln Rekordtitelträgerin im deutschen Frauenturnen. Im Mai beendete sie mit 31 Jahren ihre Laufbahn.