Es waren einmal zwei Mädchen, die hatten viel schönes Haar. Doch die Zauberkraft ihres kostbaren Besitzes war ihnen fremd. Sie wollten nur einen Weg in die Freiheit. Und als sie begriffen, was sie anderen mit ihrer Tat angetan hatten, da war es zu spät.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die Studentin Lynn Fischer und ihre Lebensgefährtin Vanessa Tomasi sind in eine haarige Angelegenheit verwickelt - und das war die erste und letzte Haar-Floskel, die hier angebracht werden soll, versprochen. Es ging nur darum, den neuen Zürcher "Tatort" in die harte Realität zu holen, denn märchenhaft ist an "Rapunzel" wenig. Auch wenn die Perückenmacherin Aurora Schneider (Stephanie Japp) in einem efeuumrankten Haus zärtlich Haarsträhnen kämmend ihrer altertümlichen Arbeit nachgeht.

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Echthaar ist ein Wertgegenstand, darum geht es. Im übertragenen, aber auch sehr materiellem Sinn. Und darum hängt Vanessa (Elena Flury) jetzt mit halb abrasiertem Haarschopf tot in einer Baumkrone. Am Vorabend noch hat sie sich verfolgt gefühlt, hat Lynn (Elsa Langnäse) gefragt, ob die denn keine Angst habe: "Wir haben voll den Scheiß gebaut!" Lynn hat gelacht und sie beruhigt und ihre Freundin an die Reise erinnert, die sie bald mit ihrem Geld unternehmen könnten.

Das Haar der Ärmsten für die Köpfe der Reichsten

Ziemlich schnell scheint klar, was die beiden jungen Frauen getan haben: Das qualitativ hochwertige Echthaar, für das Aurora Schneider bekannt ist, ist aus ihrem Lager verschwunden. Und Vanessa hat bei der Perückenmacherin eine Ausbildung absolviert – widerwillig. Denn eigentlich wollte sie den Salon ihres berühmten Vaters übernehmen. Doch Star-Friseur Marco Tomasi (Bruno Cathomas) war nicht nur während Vanessas Kindheit ein abwesender Vater, auch jetzt hat er ihr die Ausbildung in seinem Laden verweigert und sie bei seiner alten Freundin Aurora untergebracht.

Bei ihren Ermittlungen bekommen die Kommissarinnen Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) Einblick in das lukrative Geschäft mit Echthaar. Denn zu den Verdächtigen zählt bald auch Rudolf von Landegg (Matthias Schoch), der gut frisierte und Halstuch tragende Chef von Majestic Hair. Das Großunternehmen macht Millionen mit dem Verkauf von Perücken und Haarteilen – hergestellt zum Beispiel mit den Haaren, die fromme Inderinnen ihrem Tempel spenden, der sie dann in alle Welt an Unternehmen wie Majestic verkauft. Aber niemand komme mit legalen Mitteln an so viel Echthaar, warnt Aurora Schneider. Ist der fesche Prinz Rudolf etwa ein Bösewicht?

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Tessa Ott soll zum Friseur

Doch es geht nicht nur um das Geschäft. Grandjean und Ott stoßen auf komplizierte Familienangelegenheiten – durchaus auch persönliche. Es gibt einen Zweig der Psychoanalyse, der Märchen als wertvolle Fundgrube betrachtet, um Einblicke ins Unbewusste des Menschen und seine verborgenen Ängste und Wünsche zu erlangen. "Rapunzel" ist in der psychoanalytischen Literaturinterpretation eine Geschichte über eine problematische Mutter-Tochter Beziehung und über die Emanzipation einer Tochter zur Frau.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf lässt sich der Fall im "Tatort" zwar nicht lösen, aber es öffnen sich zusätzliche Sichtweisen, die manchmal sogar unterhaltsam sind. Etwa, wenn man Tessa Ott dabei zusieht, wie sie sich unter dem strengen Blick ihrer Mutter windet, die sich unerwartet aus einem Frisiersessel erhoben hat. Natürlich lässt sich die vornehme Madleine Ott (Babett Arens) ausschließlich vom großen Tomasi das Haar richten, und natürlich empfiehlt sie auch Tessa dringend einen Termin.

Wenn ein Killer Haare kämmt

Wichtiger aber ist Drehbuchautor Adrian Illien ("Davos 1917") und Regisseur Tobias Ineichen die Symbolkraft des Haares: Haare sind Ausdruck der Persönlichkeit und als solche untrennbar mit ihrem Träger und ihrer Trägerin verbunden. Einst galt das Haar sogar als Sitz der Seele, lernen wir in "Rapunzel". Und noch mehr: Haare sind Machtmittel, Trostspender, Politikum, Treue- und Liebesbeweis. Wo es nur geht, werden nicht nur wirtschaftliche und kapitalismuskritische Daten und Fakten zum boomenden Business Haar-Extentions vermittelt, sondern eine Fülle an Trivia übers Haar aus Mythen, Märchen und orthodoxen Religionen in Unterhaltungen und Verhöre eingestreut.

Das macht den Krimi schwerfälliger, als er sein müsste. Viel überzeugender sind die Bilder: Reizvoll wird die künstlerische Zuneigung für seidene Haarsträhnen, die jemand wie Aurora Schneider empfindet, immer wieder mit Szenen kontrastiert, die man aus Psychothrillern kennt: Wenn unbekannte Hände über Frauenhaare streichen und Frauenhaare schneiden, dann schlägt Liebe in mörderischen Wahnsinn um. Auch im dramatischen Finale, das das Rapunzelmotiv auf vielleicht nicht sehr wahrscheinliche, aber immerhin spektakuläre Weise auf die Spitze treibt, arbeitet der Zürcher "Tatort" mit starker Optik.

Nein, märchenhaft ist "Rapunzel" nicht. Eher eine traurige Geschichte: Es waren einmal zwei Mädchen, die hatten viel schönes Haar. Doch die Zauberkraft ihres kostbaren Besitzes war ihnen fremd. Sie wollten nur einen Weg in die Freiheit. Und als sie begriffen, was sie anderen mit ihrer Tat angetan hatten, da war es zu spät.