Seit August läuft das Reality-Format "Are You My First?" auf Disney+. Die Produzenten versprechen ein bahnbrechendes Dating-Experiment, in dem die größte und heißeste Gruppe an Jungfrauen aufeinandertrifft.
Seit Beginn von Reality-TV sollen Zuschauende mit neuen, noch nie dagewesenen Inhalten unterhalten werden. Während die Einschaltquoten nach oben klettern, geht es mit den ethischen Werten steil nach unten. Wie kam es dazu? Und wohin führt das noch?
Big Brother: Privates wird öffentlich gemacht
Die Sendung "Big Brother" läutete eine neue Ära des Fernsehens ein. Ist es im Jahr 2000 noch ein Skandal, Menschen öffentlich einzusperren, stumpfen verantwortliche Produktionsfirmen, Kandidaten, Kandidatinnen und Zuschauende über die Jahre hinweg ab.
In der ersten "Big Brother"-Staffel kommt es zum ersten TV-Sex – damals noch unter der Bettdecke, es lässt sich mehr erahnen als sehen, trotzdem: ein Skandal. Heute dagegen erschüttert es niemanden mehr, wenn in Formaten wie "Are You The One" am ersten Abend der "Boom Boom Room" gleich eingeweiht wird, um, ja, eben, boom boom zu machen. Aber nicht nur was TV-Sex angeht ist "Big Brother" Vorreiter.
Laut Medienforscherin Joan Kristin Bleicher geht Reality-TV immer schon zu weit: "'Big Brother' war schon eindeutig ein Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte und vor allem aus meiner Sicht eine sehr problematische Aufhebung der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit". Grenzüberschreitung und Reality-TV gehen Hand in Hand.
In den Jahren nach "Big Brother" folgen immer weitere Formate wie beispielsweise "Ich Bin Ein Star - Holt Mich Hier Raus", "Sommerhaus der Stars" oder ganz aktuell "Die Villa der Versuchung". Über letzteres Format wundert sich auch Medienforscherin Bleicher. Sie beobachtet in der Sendung, dass die Situation hoch verschuldeter Menschen ausgenutzt wird.
Verbale Aussetzer und asoziales Verhalten für mehr Sendezeit
Es gibt Kandidatinnen und Kandidaten, die sich mit Absicht gegen das Team stellen und dafür sorgen, dass das Preisgeld von ursprünglich 250.000 Euro immer weiter sinkt. Denn wie hoch die Gewinnsumme am Ende ist, haben die Promis selbst in der Hand. Sie haben die Wahl, entweder gratis pürierte Pizza zu essen oder sich beispielsweise für 250 Euro Nüsse aus der Snack-Bar zu nehmen. Zigaretten kosten pro Stück am Ende 150 Euro.
In der Villa selbst gibt es zwei Lager: die einen, die an der hohen Gewinnsumme festhalten möchten, und die anderen, die das Geld verschleudern und gerne auch mal nachts an die Snack-Bar gehen, um Vorräte zu bunkern.
Dieses Verhalten sorgt für ordentlich Drama, Streit und die Bildung von Allianzen und Intrigen. Wer andere Kandidaten oder Kandidatinnen anschreit oder beleidigt, wird vielleicht mit dem Rauswurf "bestraft", bekommt am Ende aber die größte mediale Aufmerksamkeit und sorgt für Gesprächsstoff. In der Reality-Sprache nennt man das "Sendezeit".
Die gibt es eben vor allem für verbale Aussetzer und asoziales Verhalten, wie zuletzt bei "Prominent getrennt" zu sehen war. Berichtet wird beispielsweise über Kandidatinnen, die anderen Kandidaten Getränke ins Gesicht schütten. Obwohl solches Verhalten problematisch ist, bekommen diese Personen weiterhin ihre Bühne im Reality-TV und somit die Bestätigung, sich weiter so zu verhalten. Denn die Quote stimmt.
"Die Bachelors" und die Suche nach der großen Liebe
Neben dem ganzen Krawall soll aber auch das Herz in der Reality-Welt nicht zu kurz kommen. So sucht 2003 der erste "Bachelor" die große Liebe im Fernsehen. Es folgen "Die Bachelorette", "Love Island", "Princess Charming" oder "Are You The One". Dating-Formate gibt es mittlerweile wie Sand am Meer.
Obwohl es kleine Unterschiede von Format zu Format gibt, sind sie im Kern gleich aufgebaut: Normschöne junge Menschen werden über einen gewissen Zeitraum in irgendeiner Villa an irgendeinem Strand zusammengebracht und sollen sich vor laufender Kamera verlieben oder zumindest knutschen. Damit die Suche für Zuschauerinnen und Zuschauer unterhaltsam ist, müssen die Kandidatinnen und Kandidaten verschiedene Gruppenspiele machen, Motto-Partys feiern, und am Ende muss immer jemand die Sendung vorzeitig verlassen. Im Finale gibt es dann das oder die Gewinnerpaare.
"Are You My First" reiht sich in diese Reality-TV-Dating-Reihe ein. Aber mit dem feinen Unterschied, dass die Teilnehmenden noch nie Sex hatten. Und damit dies die Zuschauenden auch ja nicht vergessen, ist gefühlt jedes zweite Wort "Virgin" oder "Virginity", also Jungfrau oder Jungfräulichkeit.
Man geht nicht, wie so schön gesagt wird, auf ein Date, sondern auf ein V-Date (V wie Virgin, versteht sich). Getrunken wird dabei Virgin-Colada, und wer bis zum Ende der Folge keine echte romantische Verbindung aufbauen kann, wird bei der Jungfrauenopferung nach Hause geschickt.
Lässt das Moderationspaar mal keine doppeldeutige Bemerkung über die Jungfräulichkeit der Kandidaten und Kandidatinnen fallen, übernehmen das die paarungswilligen Teilnehmenden selbst. Sie werden nicht müde zu erwähnen, dass sie sich auf jeden Fall vorstellen können, endlich hier im Fernsehen die Person fürs erste Mal gefunden zu haben.
Grenzüberschreitung ist Teil des Reality-TV
Auf der Jagd nach den ersten Malen sind nicht nur die Kandidatinnen und Kandidaten der Sendung "Are You My First", sondern auch die Produzenten und Produzentinnen. Sie suchen diese eine Idee, dieses eine Format, diesen einen Twist, den es so noch nie im Reality-TV gegeben hat. Das Ziel ist, die Zuschauenden mit neuen, überraschenden Inhalten zu unterhalten; besonderer Nebeneffekt: Die Teilnehmenden werden bloßgestellt.
Wie mit Kandidaten und Kandidatinnen umgegangen wird, ist laut Medienforscherin Joan Kristin Bleicher ein klarer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht: "Und vor allem haben die Kandidatinnen ja keinen Einfluss darauf, wie sie inszeniert werden. Das ist ja ein Standardkonflikt, der immer wieder auf Instagram ausgetragen wird. Die Mitwirkenden posten, 'wir sind ganz anders dargestellt worden, als wir uns tatsächlich verhalten haben'".
Dass die Kandidatinnen und Kandidaten generell einiges aushalten müssen, zeigte sich schon bei Big Brother, der Geburtsstunde der Grenzüberschreitung im Reality-TV. So führt Bleicher weiter aus, dass in einem Spiel die Teilnehmenden dazu gezwungen sind, nicht zu schlafen: "In den Genfer Konventionen wird lang andauernder Schlafentzug unter Folter gegen Gefangene ausgeschlossen, aber da ist es ein lustiges Spielchen".
2014 inszeniert die US-Show "I Wanna Marry
Natürlich ist dem nicht so, und statt des echten Prinzen wird ein extra gecasteter Doppelgänger mit gefärbten Haaren präsentiert. Für die perfekte Inszenierung wird der falsche Harry so geschult, dass er ein täuschend echtes royales Auftreten hinlegen kann. An seiner Seite stehen Butler, Sicherheitsleute und Bedienstete, die ihn rund um die Uhr auf dem Anwesen begleiten. Sogar ein gefälschtes Bild von ihm mit "seinem" Bruder William hängt an der Wand des Anwesens.
Im Finale der Show gesteht der falsche Harry, nicht der Duke of Sussex zu sein. Während er und die Gewinnerin, die sich am Ende trotzdem für ihn entschieden hat, gemeinsam mit 250.000 US-Dollar in der Tasche nach Hause fahren, bleiben die restlichen Frauen nicht nur mit einem gebrochenen Herzen zurück. Viele leiden nach eigenen Angaben unter ihren Erfahrungen, die sie damals gemacht haben. Sie fühlen sich manipuliert und bloßgestellt und trauen sich am Ende selbst nicht mehr, weil sie diesem perfekt inszenierten Märchen geglaubt haben.
"There Is Something About Miriam" soll für steigende Abo-Zahlen sorgen
"I Wanna Marry Harry" ist allerdings nicht die erste Show, die bewusst für die Quote Kandidatinnen täuscht. Bereits 2004 läuft eine Sendung, die die Grenzen nicht nur ausreizt, sondern deutlich überschreitet: die ebenfalls britische Reality-TV-Serie "There Is Something About Miriam".
Ziel ist es, zahlende Kundschaft für den Streaming-Dienst Sky zu gewinnen. Grenzen zu überschreiten, ist nicht nur ein nötiges Übel, sondern eine bewusste Vorgabe. Es muss ein neues Format mit einem besonderen Twist her, etwas mit dem niemand rechnet, eben eine besondere Sache.
Diese "besondere Sache" bringt vor gut 20 Jahren Miriam mit. Die Idee ist, dass Miriam in einer für Dating-Formate typischen paradiesischen Kulisse sechs Single-Männer trifft und sich am Ende für einen Gewinner ihres Herzens entscheidet. So weit, so bekannt. Was die Zusehenden von Anfang an wissen, den Kandidaten allerdings verheimlicht wird: Miriam ist eine trans Person.
Dass dies in einem Debakel endet, ist aus heutiger Sicht kein Wunder; queere Menschen müssen im Jahr 2025, wie in aktuellen politischen Debatten erkennbar ist, immer noch um ihre Rechte und Anerkennung kämpfen.
Vor gut zwei Jahrzehnten sind queere Personen kaum im Reality-TV vertreten, und von einem guten Umgang mit dem Thema kann nicht die Rede sein. So wird Miriam damals von einem Arzt untersucht, der in der Show bestätigt, dass sie männliche Genitalien hat. Miriam muss dem Gewinner der Sendung vor den Augen aller bereits ausgeschiedenen Kandidaten am Ende nicht nur ihre Liebe "gestehen", sondern auch, dass sie "not a real woman" – also keine "echte Frau" ist.
Begleitet wird das große Finale von Security-Personal und einem extra eingeflogenen Psychologen, der die Kandidaten am Ende betreuen muss. Die Teilnehmer klagen noch vor der Ausstrahlung der Sendung unter anderem wegen sexuellen Übergriffs und Verleumdung. Miriam, die zunächst die mediale Aufmerksamkeit nach der Ausstrahlung genießt, wird in der Öffentlichkeit schnell auf diese eine "besondere Sache" reduziert und nicht ernst genommen. Sie verstirbt 2019 unter nicht genau geklärten Umständen.
Worin liegt die Faszination am Reality-TV?
Nach all den Erfahrungen stellt sich die Frage: Sind wir 2025 weiter? Das Format "Are You My First" zeigt: nicht wirklich! Noch immer versuchen Produktionsfirmen, die Zuschauerinnen und Zuschauer mit neuen Formaten, die Drama garantieren, zu gewinnen – und, wie im Falle von Streamingdiensten wie Disney+, neue Abonnements abzuschließen.
Disney+ könnte mit "Are You My First" sehr wohlwollend zugestanden werden, dass die Sendung Menschen einen Raum biete, der ihnen Treffen in einem sicheren Rahmen ermögliche. In ihrem bisherigen privaten Umfeld werden die Teilnehmer nach eigenen Aussagen eher als Sonderlinge oder Außenseiter wahrgenommen. Dies ist einer der Beweggründe für ihre Teilnahme, die Kandidatinnen und Kandidaten selbst aufzählen: unter ihresgleichen die Liebe des Lebens zu finden, ohne dabei verurteilt zu werden.
Es mag sich für die Liebessuchenden während der Drehzeit in diesem Rahmen danach anfühlen. Nach außen hin, für die Zuschauerinnen und Zuschauer, wird an der Stigmatisierung des Klischees der Jungfrauen festgehalten. Die Kandidaten und Kandidatinnen werden permanent als die, die "besonders" sind, dargestellt.
Diese Art der Inszenierung hat ebenfalls Tradition im Reality-TV: "Grundlegend für Menschen ist ja immer das Interesse an anderen Menschen, und das wird im Reality-TV natürlich ausgenutzt. Und Zuschauer und Zuschauerinnen befinden sich in einer gewissen voyeuristischen Position. Das heißt, sie können das Leben, die Konflikte oder die Anforderungen an anderen beobachten, ohne selbst irgendwie beteiligt zu sein", so Joan Kristin Bleicher. Im Kern geht es darum, dass sich Menschen aus dem Gefühl der Überlegenheit Reality-TV ansehen.
Von außen können Zuschauende als Unbeteiligte die Kandidaten und Kandidatinnen belächeln. Dies sei eine Form der Selbstbestätigung. In dieser Aussage schwingt ein wichtiger Anteil bei der Betrachtung des sinkenden Niveaus von Reality-TV mit: dass Zuschauerinnen und Zuschauer als Endkonsumenten hinnehmen, dass mit den Teilnehmenden so umgegangen wird.
Denn bei der Frage, wer die Verantwortung für die Inhalte trägt, sind Produzierende und Zusehende miteinander verwoben. Heißt: Nicht nur die Produktion ist schuld, die Zuschauerinnen und Zuschauer sind es ebenfalls.
Bleicher spricht bei der Frage nach der Verantwortung den Begriff der "Publikumsethik" an, der von Kommunikationswissenschaftler Rüdiger Funiok geprägt wurde: "Die Publikumsethik besagt, wenn Formate gegen geltende ethische Maßstäbe verstoßen, dass Zuschauer und Zuschauerinnen die Möglichkeit haben, über das Nichtschauen, also über das Verweigern der Rezeption, solchen Phänomenen entgegenzuwirken."
Produzenten und Produzentinnen seien natürlich auf Zuschauer und Zuschauerinnen angewiesen. "Beide Bereiche sind also eng verschränkt", so Bleicher. Wohin das sinkende Niveau von Reality-TV noch führt, liegt also nicht nur in den Händen der Machenden, sondern auch der Zuschauenden. Oder anders formuliert: Wer die Fernbedienung in der Hand hält, hat die Macht, mitzubestimmen. So stellt sich nicht allein die Frage, wie tief Reality-TV noch sinkt, sondern auch: Wie viele sind bereit, beim Untergehen zuzusehen?
Für die Produktionsfirmen zählen am Ende die Zahlen. Ob sich eine Produktion finanziell lohnt oder nicht, entscheidet sich bei der Ausstrahlung. Mit jeder Fernsehproduktion gehen Produktionsfirmen ein Risiko ein. Damit die Quote passt, halten sie an dem fest, was funktioniert: Drama, Skandal, Bloßstellung – und eben die eine besondere Sache, die vorher noch nie da war.
Empfehlungen der Redaktion
Reality-Experte Julian F. M. Stoeckel formuliert dies im Interview mit unserer Redaktion so: "Produzieren wir im Showbusiness keine Qualitätsinhalte mehr, in denen es um Niveau geht, um guten Stil, um Kulturkunst? Produzieren wir nur noch diese Art von Formaten, und "die anderen" müssen sich nun auch in diese Welt integrieren? Wie weit geht diese Abwärtsspirale? Mein Gefühl sagt mir, es ist noch nicht das Ende, es geht noch weiter. Irgendwann werden wir wahrscheinlich ein Format haben, in dem die Frage ist: Wer springt zuerst vom Hochhaus – und an einem ist kein Seil dran".
Zur Gesprächspartnerin
- Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher ist Professorin für Medienkultur und Journalistik an der Universität Hamburg. Zu ihren Hauptarbeitsgebieten zählen Medienästhetik und -geschichte, Narrationstheorie, zeitgenössische Literatur und Grundlagenforschung im Internet. Zu ihren Publikationen zählt unter anderem eine umfassende Studie zum Thema Reality-TV in Deutschland, inklusive Analyse von Formaten wie Big Brother, Dschungelcamp et cetera.
Verwendete Quellen
- press.hulu.com: "Are You My First?"
- disneyplus.com: "Are You My First?"
- joyn.de: "Villa der Versuchung"
- open.spotify.com: "Alle lieben Miriam (REALITY- Ein TV-Skandal 1/6)". Skandal, Skandal, Wondery, 16.07.2025
- open.spotify.com: "The Bachelor Of Buckingham Palace" Wondery, 22.04.2025