Florian Lipowitz hat bei der Tour de France für Furore gesorgt, der 24-Jährige fuhr als Dritter auf das Podium und wurde bester Nachwuchsfahrer. Doch wie geht es für den Shootingstar weiter? Kann er in Zukunft sogar die Tour gewinnen?

Eine Analyse
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Der Reflex ist bekannt und typisch deutsch: Nach dem dritten Platz von Florian Lipowitz bei der Tour de France wird sofort eine Frage gestellt: Ist der 24-Jährige nur ein One-Hit-Wonder, das wieder in der Versenkung verschwindet oder ist der neue deutsche Radsport-Held womöglich ein künftiger Tour-de-France-Gewinner?

Der Hype während der vergangenen Wochen war groß, er kam quasi aus dem Nichts. "Wir neigen in Deutschland gerne dazu, eine große Erwartungshaltung zu haben. Aber er ist meines Erachtens absolut in der Weltspitze angekommen", sagte Radsport-Legende Jan Ullrich bei RTL: "Wir haben wieder ein riesengroßes deutsches Talent. Er weckt den Traum von allen Radsportfans, dass da noch mehr kommen kann." Kann denn noch mehr kommen? In der "Sport Bild" sagt Ullrich ganz klar: "Ja, Florian kann die Tour gewinnen. Aber das ist ein weiter, harter Weg."

Lipowitz: Kein Aufstieg aus dem Nichts

Fest steht schon jetzt: Aus dem Nichts kommt dieser Erfolg nicht, auch wenn Lipowitz erst vor rund sechs Jahren endgültig vom Biathlon in den Radsport wechselte und seit 2023 als Profi aktiv ist. Doch die Erfolge stellten sich schnell ein. 2023 gewann er die Tschechien-Rundfahrt, 2024 siegte er bei der Sibiu Cycling Tour und wurde bei der Vuelta Siebter. 2025 dann holte er vor dem Tour-Erfolg auch die Nachwuchswertung bei Paris-Nizza und dem Criterium du Dauphine, wurde in der Gesamtwertung Zweiter und Dritter und bei der Baskenland-Rundfahrt Vierter.

Es ist ein kontinuierlicher Aufstieg, den Lipowitz hinlegt, getragen von Talent und Fleiß sowie einem klaren Fokus, kombiniert mit Gelassenheit. Bei der Tour ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen, als Erwartungen und Druck kontinuierlich stiegen. Dabei zeigte er Kämpfer-Qualitäten und begeisterte mit Mut und Unbekümmertheit. Außerdem stellte er eine enorme Ausdauer und einen ausgeprägten Renninstinkt unter Beweis.

Lipowitz stellt Kapitän in den Schatten

Vieles spricht deshalb dafür, dass der erste deutsche Podiumsplatz bei der Tour seit 2006 kein überraschender Ausreißer nach oben war, sondern ein Versprechen. Beeindruckend: Lipowitz stellte als eigentlicher "Edelhelfer" Teamkapitän Primoz Roglic in den Schatten und sorgte so für eine unerwartete Kapitäns-Diskussion, in der er mit dem Ergebnis ein Ausrufezeichen setzte. Lipowitz hat laut Ullrich deshalb "Eigenschaften, die du brauchst, um ganz oben zu stehen." Aber: "Eine Tour zu gewinnen ist noch mal ein ganz anderes Level. Da musst du drei Wochen lang nahezu fehlerfrei bleiben".

Zum Niveau von Toursieger Tadej Pogacar oder des Zweiten Jonas Vingegaard fehlt Lipowitz noch etwas, doch diesen Rückstand kann der Deutsche aufholen, weil er mit 24 Jahren noch jede Menge Entwicklungspotenzial besitzt. Das wissen auch die Konkurrenten. "Er wird von Tag zu Tag besser, ist ein unglaublicher Fahrer", wird Tour-Dominator Pogacar von Eurosport zitiert. Er prophezeit Lipowitz eine glanzvolle Zukunft: "Wenn er so weiter macht, kann er große Dinge erreichen."

Lipowitz wird aber wohl nicht einfach so weitermachen können. Denn wie Ullrich erwähnte, wird sich die Erwartungshaltung noch erhöhen, und damit der Druck. Auch die Verpflichtungen abseits des Radsports werden zunehmen, er ist deutlich gefragter als vor der Tour. "Was er braucht, ist Zeit zur Entwicklung – körperlich, aber vor allem mental", sagt Ullrich. "Du musst lernen, mit Druck umzugehen, mit Erwartungen, mit den Medien, mit Rückschlägen. Ich weiß, wovon ich spreche. Das ist nicht immer einfach."

Das Team steht in der Verantwortung

Helfen muss dabei sein Team, das für die weitere Entwicklung essenziell sein wird. Bei der Tour gab man taktisch hin und wieder ein unglückliches Bild ab, dazu fehlt der Mannschaft die Breite und Lipowitz damit wichtige Helfer. "Wenn man die Tour gewinnen will, dann braucht man ein Team, das zu hundert Prozent auf dich ausgerichtet ist. Helfer, die sich aufopfern. Eine sportliche Leitung, die einen klaren Plan verfolgt. Und die Erfahrung, das auch unter Stress durchzuziehen", stellte Ullrich klar.

Stattdessen ist der Status des vielversprechendsten deutschen Talents nur bedingt klar. Teammanager Ralph Denk verkündete im Podcast "Inside Red Bull-Bora-hansgrohe" zwar, dass Lipowitz langfristig an das Team gebunden sei. Man wolle "Florian als Marke relativ groß machen, aber auch schützen", sagte Denk: "Immer mit der Prämisse: Performance first." Eine behutsame Weiterentwicklung ist der richtige Ansatz.

Denk weiß zudem, dass bei der Tour "ein Stück weit mehr Bergsupport wünschenswert gewesen" wäre, "aber unser Kader gibt aktuell nicht viel mehr her. Wir werden peu à peu mehr Qualität reinbringen." Ob das dann 2026 für den Angriff auf Gelb reichen wird, muss sich zeigen. Doch die Gerüchte halten sich hartnäckig, dass Red Bull-Bora-hansgrohe Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel verpflichten könnte. Dann müsste sich Lipowitz gegen einen nur ein Jahr älteren Superstar aus Belgien behaupten. "Ich würde mich freuen", sagte Lipowitz: "Ich glaube, dass wir auch zusammen etwas Gutes erreichen könnten." Eine klare Nummer eins ist für einen Tour-Erfolg aber unerlässlich.

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So oder so: Die Tour 2026 ist noch weit weg. Erst einmal würde sich Lipowitz über die Nominierung zur Weltmeisterschaft in Ruanda im September freuen. "Eine WM ist immer etwas Besonderes und ich glaube, jeder deutsche Fahrer freut sich, wenn man da nominiert wird und da für sein Land an den Start gehen kann", sagte er der dpa. Daneben würde er "gern" auch bei der Deutschland Tour an den Start gehen, auch die Lombardei-Rundfahrt im Oktober hat er im Blick.

Es sind die weiteren Etappen auf einem Weg, der längst mehr ist als ein Überraschungserfolg. Nein, Lipowitz ist kein One-Hit-Wonder, sondern eine glaubwürdige und greifbare Hoffnung, dass deutscher Radsport wieder mehr sein kann als nur Nostalgie und Rückblick. Ob er einmal die Tour gewinnt, ist offen. Aber dass diese Frage ernsthaft gestellt wird, ist bereits ein Statement.

Verwendete Quellen