Die Tragödie beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1955, als das Fahrzeug von Pierre Levegh in die Haupttribüne flog, jährt sich zum 65. Mal. Mit 84 Todesopfern gilt das Unglück bis heute als größte Katastrophe des modernen Rennsports.

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Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans gehört zu den größten Motorsportveranstaltungen eines jeden Kalenderjahres. Große Automobilhersteller investieren viele Millionen, um konkurrenzfähige Boliden ins Rennen zu schicken und als Langstreckenkönige gekrönt zu werden.

Le Mans hat sich seit dem ersten Rennen 1923 zu einer weltweit bekannten Marke entwickelt. Der Mythos Le Mans wurde in großen Hollywood-Produktionen - erst zuletzt in "Ford gegen Ferrari" - aufgegriffen und in zahllosen Büchern besprochen. Dabei waren es nicht immer nur die strahlenden Sieger, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.

Le Mans umgibt eine Aura des Gefährlichen. Die Strecke führt seit Anbeginn vor allem über öffentliche Landstraßen und hat mit der sechs Kilometer langen Mulsanne-Geraden eine der aufregendsten Passagen im globalen Motorsportbetrieb zu bieten. "Man fühlte sich sehr verbunden, weil es keine Zäune gab, keine Absperrungen. Wir waren ganz nah dran an den Autos", berichtete Zeitzeuge Jean-Paul Guittet.

Ein Franzose fährt für Mercedes

Dass Unfälle, zuweilen mit tödlichem Ausgang, die Geschichte von Le Mans prägten, ist wenig überraschend. Was allerdings am 11. Juni 1955 geschah, überstieg sogar die Vorstellungskraft aller Motorsportkritiker, die Autorennen schon damals für unnötig und zu gefährlich hielten.

An jenem Tag vor 65 Jahren starben neben dem Fahrer Pierre Levegh (eigentlich Pierre Bouillin) 83 Zuschauer. Der Unfall ereignete sich um 18:26 Uhr Ortszeit, knapp zwei Stunden nach Rennbeginn.

Levegh fuhr in jenem Jahr für Mercedes. Der Franzose war eigentlich Juwelier und nur ein Privatier, der sich mit eigenen Finanzmitteln über viele Jahre Wagen besorgte. Levegh wurde lange Zeit von den konkurrierenden Berufsrennfahrern wenig Respekt gezollt, weil er sich in ihren Augen beim Rennen von Le Mans "einkaufte" und angeblich nicht über das notwendige Ausnahmetalent verfügte.

Allerdings lieferte Levegh beim Rennen von 1952 eine außergewöhnliche Leistung ab. Statt sich mit einem zweiten Fahrer die Rennzeit aufzuteilen und bei Boxenstopps zu wechseln, wie es üblich war, fuhr er das Rennen über 23 Stunden allein und schied in Führung liegend erst kurz vor Schluss aufgrund eines Motorendefekts aus.

Damit hatte sich Levegh zu Höherem empfohlen. Als Mercedes kurz vor dem Start des Rennens von 1955 einen Ersatzfahrer für den verletzten Hans Herrmann suchte, fiel die Wahl auf Levegh. Das hatte neben sportlichen auch politische Gründe. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs pilotierte ein Franzose einen Werks-Mercedes um die sagenumworbene Strecke in Le Mans. Die damit verbundenen Positivschlagzeilen hätten die Stuttgarter dankend angenommen.

Mit aller Gewalt an die Boxengasse

Doch Mercedes sorgte an jenem Tag nicht für Positivschlagzeilen. Levegh lag zum Zeitpunkt des Unfalls bereits eine Runde hinter den Führenden. An der Spitze lieferten sich Mike Hawthorn im Jaguar und der mehrfache Formel-1-Weltmeister Juan Manuel Fangio im Mercedes einen erbitterten Positionskampf.

Zwischen den beiden lag der überrundete Levegh, als das Trio auf die enge Zielgerade einbog. Der übermotivierte Hawthorn wollte an die Boxengasse fahren, nachdem er sie bei den vorherigen Runden jeweils verpasst hatte. Er wollte aber auch um keinen Preis Zeit verlieren. Deshalb überrundete er im letzten Moment noch den langsameren Briten Lance Macklin, bevor Hawthorn vor Macklin nach rechts in die Boxenstraße abbog, die in Le Mans wie auf vielen Rennstrecken nicht baulich von der Zielgeraden abgegrenzt war und deshalb eine direkte Einfahrt erlaubte.

Hawthorns Manöver entpuppte sich nicht nur als sinnlos, denn er kam erst 100 Meter hinter seinen wartenden Mechanikern zum Stehen, sondern vor allem als katastrophal. Macklin mit seinen schwachen Trommelbremsen verlor die Kontrolle und rutschte nach links in die Streckenbegrenzung. Levegh tuschierte Macklin bei über 200 km/h und prallte mit viel Wucht in die Balustrade.

Bilder wie im Krieg

Leveghs Wagen überschlug sich und verlor zahlreiche Teile, während es den Fahrer aus dem Fahrzeug schleuderte. In jenen Jahren befanden sich gegenüber der Boxengasse zahlreiche Zuschauer, die dort eng gedrängt standen. Viele von ihnen wurden entweder von Teilen - etwa dem Motorblock - getroffen oder erlitten Verletzungen aufgrund des Brands, der aus dem Unfall folgte. "Erst ein Feuerball, dann war es wie beim Dominospiel. Die Menschen sind reihenweise umgefallen", berichtete Augenzeuge Daniel Oudin.

Die Karosserien von einigen Fahrzeugen in jenen Jahren hatten eine Magnesium-Legierung, was jedoch die herbeieilenden Streckenposten nicht immer wussten. Sie versuchten zunächst Leveghs Fahrzeug mit Wasser zu löschen, was allerdings den Brand noch verschlimmerte. Mehrere Stunden noch loderte der Bolide.

Das Bild, das sich währenddessen im Zuschauerbereich abzeichnete, war erschütternd: leblose Körper, abgetrennte Körperteile und Blutlachen erstreckten sich über mehrere hundert Meter. "Als ich den Kopf hob, habe ich gesehen, dass alle auf dem Boden lagen. Alle tot", erzählte Roland Jamin.

Die Sicherheits- und Rettungskräfte waren stundenlang damit beschäftigt, Tote zu bergen und Verletzte zu versorgen. Die Bilder erinnerten unweigerlich an den Zweiten Weltkrieg. Insgesamt war das Rennen politisch aufgeladen, denn die deutsche Firma Mercedes kämpfte gegen die britischen Jaguars auf französischem Boden.

Mercedes tritt die Flucht an

Das Rennen lief weiter, was bei tödlichen Unfällen in jenen Jahren üblich war. Allerdings gab es nie eine Katastrophe, die so viele Todesopfer zur Folge hatte. Obwohl sich die Tragödie gegenüber der Boxengasse abspielte, war die Lage zunächst unübersichtlich. Die Teams wussten nicht sofort, wie groß das Ausmaß war.

Mercedes erfuhr jedoch im weiteren Verlauf nicht nur vom Tod des eigenen Fahrers Levegh, sondern auch von den zahlreichen Opfern unter den Zuschauern. Auf Anraten von Fahrer John Fitch zog Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer die verbliebenen zwei Fahrzeuge aus dem Rennen zurück. Fangio und sein Kollege Stirling Moss lagen zu jener Zeit eine Runde vor den Jaguars.

Doch statt den Sieg einzufahren, reiste das Team noch in der Nacht ab. "Der Rückzug war für mich eine Enttäuschung. Wir haben geführt. Mit dem Auto hätten wir sicher gewonnen, was ich wirklich gerne getan hätte", sagte Moss später. "Ich wusste nicht, was es bringen sollte aufzugeben. Es half niemanden und machte die Toten auch nicht wieder lebendig."

Allerdings sah sich die Mercedes-Führung mit heiklen Vorwürfen konfrontiert. Gerüchte machten die Runde, dass die Deutschen verbotene Benzinzusätze einsetzten, die den Brand des Wagens von Levegh noch verschlimmerten.

Wenige Jahre nach dem Krieg, in welchem Mercedes noch als Vertreter von Nazi-Deutschland aufgetreten war, kamen zahlreiche Franzosen durch einen Mercedes ums Leben. Neben der menschlichen Tragödie waren auch die politischen Dimensionen immens.

Neubauer wollte, dass seine Wagen und Mechaniker schnellstens die deutsche Grenzstadt Kehl erreichten, um wieder auf sicheren deutschen Boden zu sein. Die abrupte Flucht machte die Mercedes-Männer allerdings nicht weniger verdächtig.

Hawthorn lächelt nach dem Rennen

Es stellte sich jedoch heraus, dass Mercedes nicht der Verursacher des Unfalls war. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Hawthorn, den ohnehin unbeliebten Briten, der während der Rennen eine Fliege trug und als arrogant galt. Direkt nach dem Unfall erlitt Hawthorn einen Weinanfall, als ihm bewusst wurde, was geschehen war.

Doch während der verbleibenden 21 Stunden des Rennens erholte er sich und trat zum Ende hin so auf, als sei nichts gewesen. Wenngleich die Veranstalter auf eine Siegerehrung verzichteten, feierte Hawthorn seinen Sieg am Tag nach dem Unfall mit einem kräftigen Schluck aus der Sektflasche. Sein Lachen löste erboste Reaktionen in Frankreich aus.

Eine spätere Untersuchung sprach sowohl ihn als auch Mercedes von jeder Schuld frei und wertete den Vorfall als Rennunfall. "Das Leben musste weitergehen. Es war unser Beruf ins Auto zu steigen", sagte Moss viele Jahre später.

Zuschauerboom in Le Mans im Jahr darauf

Infolge der Tragödie änderte sich im Rennsport zunächst wenig. Lediglich die Schweiz verhängte ein allgemeines Verbot von Motorsportveranstaltungen, das bis heute gilt. Mercedes gewann in jenem die Formel-1-Weltmeisterschaft und auch noch weitere Langstreckenrennen. Der Rückzug aus dem Rennsport zum Ende des Jahres war schon vorm Rennen in Le Mans beschlossene Sache.

Die Sicherheitsvorkehrungen an den bekannten Rennstrecken wurden nur marginal verändert. Die enge Zielgerade, der Ort des Geschehens, wurde nicht etwa angepasst. Zuschauer starben auch Jahre später noch bei Veranstaltungen, etwa als der Wagen des Deutschen Wolfgang Graf Berghe von Trips beim Formel-1-Rennen in Monza 1961 in die Zuschauer flog und 14 tötete.

Für Le Mans selbst sollte sich der Vorfall - so makaber es klingt - als Gewinn entpuppen. "Es ist wirklich krass, aber dieser Unfall hat mächtig zur Bekanntheit von Le Mans beigetragen. Im Jahr danach kamen doppelt so viel Zuschauer", sagte Sportjournalist Michael Bonté.

Die Aura des Gefährlichen war mehr Anziehung als Abschreckung, auch nach dem bis heute größten Unglück in der Geschichte des Motorsports.

Verwendete Quellen:

  • ORF-Dokumentation: "zeit.geschichte: Apokalypse in Le Mans - Rennen in den Tod", 2017
  • Michel Bonté: "Le Manns, 11 Juin 1955", 2004
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