Vire-Normandie - Völlig entkräftet und schweißgebadet kauerte Mathieu van der Poel unter einem Sonnenschirm auf dem Asphalt, dann hatte das bange Warten ein glückliches Ende. Es hat gereicht - um die Winzigkeit von einer Sekunde. Das Gelbe Trikot ist bei der 112. Tour de France nach nur einem Tag zurück auf den Schultern des Klassiker-Königs. "Ich bin glücklich, das Gelbe Trikot wieder zurückzuhaben. Das sind Dinge, die kann man nicht planen", sagte van der Poel.
Der niederländische Ex-Weltmeister fuhr auf der sechsten Etappe über 201,5 Kilometer von Bayeux nach Vire-Normandie in einer Ausreißergruppe auf den achten Platz hinter dem irischen Tagessieger Ben Healy. "Ich habe richtig gelitten und war froh, die Ziellinie gesehen zu haben", ergänzte van der Poel, der die Gesamtführung von Titelverteidiger Tadej Pogacar zurückholte. Erst am Mittwoch hatte er das Gelbe Trikot an den slowenischen Ausnahmekönner im Einzelzeitfahren verloren.
Van der Poel mit den Kräften am Ende beim Schlussanstieg
Doch das Finale wurde zum Sekunden-Krimi. Van der Poel quälte sich die letzte Rampe hinauf und verlor Sekunde um Sekunde. Am Ende waren es 3:58 Minuten Rückstand auf Healy. Pogacar, der den letzten Anstieg im Hauptfeld quasi hinaufflog, erreichte mit den anderen Sieganwärtern 5:27 Minuten hinter Tagessieger Healy das Ziel. Viel weniger durfte es aus Sicht von MvP nicht sein.
Für den Paris-Roubaix-Champion ist es bereits das vierte Gelbe Trikot bei der diesjährigen Tour, 2021 war er schon sechs Tage lang als Spitzenreiter unterwegs gewesen. Pogacars Teamkollege Nils Politt war darüber nicht unglücklich: "Das erleichtert natürlich uns ein bisschen die Arbeit für die nächsten Tage. Wir haben gesagt, dass wir eine Gruppe fahren lassen und wir heute keinen Wert darauf legen, groß Energie zu spenden."

Pogacar lässt es locker angehen
So schonte Pogacar seine Kräfte für weitere Heldentaten in den Bergen. Auch der deutsche Hoffnungsträger Florian Lipowitz, der am Mittwoch im Einzelzeitfahren einen starken sechsten Platz belegt hatte, gehörte der Gruppe um Pogacar an. Zum Schluss habe er alles reingeworfen. "Am Ende, die letzten 200 Meter gingen die Beine zu. Das war dann noch voll Kampf", sagte der Youngster der ARD. Lipowitz liegt nun sogar vor seinem Kapitän Primoz Roglic, der fünf Sekunden verlor.
Sechs kleinere Bergwertungen und insgesamt 3500 Höhenmetern - das Profil glich ein wenig den Klassikern in den Ardennen und war damit maßgeschneidert für van der Poel. Der Cross-Weltmeister hat noch einiges vor bei dieser Tour. MvP kämpfte auch beim Zwischensprint um Punkte und will offenbar stellvertretend für seinen auf der dritten Etappe schwer gestürzten Teamkollegen Jasper Philipsen das Grüne Trikot holen.
Politt kontrolliert Tempo
Rund 130 Kilometer vor dem Ziel bildete sich eine acht Mann starke Fluchtgruppe mit klassischen Ausreißern wie Healy oder Quinn Simmons aus den USA. Im Peloton kontrollierte Pogacars Teamkollege Politt mit seinem großen Motor das Tempo.
Die Entscheidung über den Tagessieg fiel 41 Kilometer vor dem Ziel, als Healy alleine loszog und die Mitausreißer nicht mehr folgen konnten. Ähnlich hatte der Ire bereits 2023 eine Etappe beim Giro d'Italia gewonnen.
Vingegaard-Pleite wirkt nach
Unauffällig rollte auch Pogacars Rivale Jonas Vingegaard in der Favoritengruppe mit, nachdem er am Vortag noch eine krachende Niederlage im Einzelzeitfahren eingesteckt hatte, was in der dänischen Heimat großes Entsetzen ausgelöst hatte.
"Vingegaard von Pogacar platt gemacht", schrieb das Boulevardblatt B.T. 1:05 Minuten hatte der Tour-Sieger von 2022 und 2023 auf den zweitplatzierten Pogacar verloren. "Wir müssen die Zeit irgendwo wieder rausholen, wenn Jonas die Tour gewinnen will", sagte sein Visma-Sportdirektor Grischa Niermann.

Vielleicht schon am Freitag, wenn es auf der siebten Etappe unter den Favoriten wieder zur Sache gehen könnte. Über 197 Kilometer geht es von Saint-Malo zur Mur-de-Bretagne. Dabei wartet ein zwei Kilometer langer Schlussanstieg mit durchschnittlich 6,9 Prozent Steigung auf die Fahrer. Beim letzten Tour-Abstecher vor vier Jahren holte sich übrigens von der Poel an der Mauer den Sieg - und das Gelbe Trikot. © Deutsche Presse-Agentur