“Böse geboren“ ist ein Psychodrama um mörderische Vorurteile und die Frage, ob Mordlust vererbbar ist. Lohnt sich der neue "Polizeiruf 110"?
Als in der Rostocker Heide eine junge Frau erschossen wird, fällt der Verdacht sofort auf Milan, den Sohn eines Serienkillers. Naturverbundene Eigenbrötler in dysfunktionalen Familien bevölkern diesen "Polizeiruf".
Schön haben es Milan und seine Mutter am Wald. Ein solides Haus mit einer gemütlichen Küche, draußen viel Platz für die Fischräucherei, die Eva Greuner (
Drinnen liegt Milan mit Kopfhörern auf dem Bett, umgeben von seinen Bleistiftzeichnungen voller Monster und Waldgestalten wie aus einem Alptraum. Milan kann seine Mutter nicht hören. Muss er auch nicht. Er kann sie schon lange nicht mehr hören, die Versicherungen seiner Mutter. Ja sicher, sie hat ihn lieb. Aber sie traut ihm nicht.
Denn Milan ist der Sohn eines mehrfachen Frauenmörders und die Folge einer Vergewaltigung. Das wissen wir am Anfang zwar nicht, aber dass hier etwas nicht stimmt in der Beziehung von Mutter und Sohn, das ist schnell klar. Weniger klar ist Milan. Eindeutig ein Eigenbrötler, wie er so frühmorgens mit seinem Jagdgewehr durch den Wald streift. Aber wenn Einzelgängertum, traurige Musik und düstere Skizzen eine kriminelle Ader signalisieren, wären dann nicht Tausende von Teenagern potenzielle Serienkiller? Man wird den Eindruck nicht los, dass nicht Milan das Problem ist, sondern eher seine Mutter. Sie gehört auch zu den Ersten, die ihn verdächtigen, als im Wald die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, die von mehreren Gewehrschüssen getroffen wurde.
"Böse geboren": Gibt es das Psychopathen-Gen?
In der Forschung ist der Begriff Psychopathie umstritten, aber vereinfacht gesagt gibt es bestimmte Charaktereigenschaften, die bei Psychopathen häufig vorkommen und die erblich sind, darunter vor allem ein Mangel an Empathie und Gefühllosigkeit. Doch der neue "Polizeiruf 110" aus Rostock stellt nicht wirklich die Frage, ob Bosheit erblich ist – im Mittelpunkt steht vielmehr, was passiert, wenn alle glauben, dass man böse geboren worden ist. Bis man es selbst auch tut. Vor allem, wenn außerdem alle glauben, dass umgekehrt eine Familie aus lauter wohlgeratenen Mitgliedern nichts Böses im Schilde führen kann.
Die Cobalts sind so eine Familie. Ihnen gehört ein Forstbetrieb und eine wunderschöne alte Villa, in der sich alle zum Essen am großen Holztisch versammeln: Julia Cobalt (Annika Kuhl) ist die Revierförsterin, sie hat am Morgen mit ihrem Hund die Leiche entdeckt. Ihr Mann Tobias Cobalt (Nicki von Tempelhoff) liefert Holz aus; dabei geht ihm sein Sohn Paul (Jonathan Lade) zur Hand, der immer so nett zu Milan ist. Eva Greuner scheint regelrecht neidisch auf den wohlgeratenen Sprössling.
Eine traute Familie voller Jäger
Gut, dass Kommissarinnen wie Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) sich weder von Vorurteilen noch von Familienidyllen groß beeindrucken lassen. Schon deshalb, weil die Tote eine militante Jagdgegnerin war und Julia Cobalts Bruder Hannes (Thilo Prothmann) im Rollstuhl sitzt, seit sein Hochsitz von Aktivisten angesägt wurde.
Gerade noch haben Tobias und Julia Cobalt ihren Bruder ähnlich misstrauisch beäugt wie Eva Greuner ihren Sohn. Aber König und Böwe gegenüber bilden die Cobalts eine geschlossene Front, wie sie da so vereint am Esstisch sitzen. "Wir jagen alle!", sagen sie trotzig, als sie zu einem Gewehr befragt werden. "Schön", antwortet Katrin König trocken. Aber es dauert nicht lange, bis Risse in dieser Jägerfamilie sichtbar werden, die bis zum Haus der Greuners reichen.
Lesen Sie auch
Böse gemacht, nicht böse geboren
Naturverbundene Eigenbrötler in dysfunktionalen Familien bevölkern diesen "Polizeiruf", der aus einem reißerischen Thema einen psychologisch spannenden und stimmigen Kriminalfilm macht. Eine kalte, schneematschige Rostocker Heide trägt das ihre zu der beklemmenden Atmosphäre bei.
Abwesende Väter müssen nicht gleich verurteilte Serienkiller sein, um Schaden anzurichten, und liebende Mütter sind alles andere als ein Allheilmittel.
Sogar die frohgemute Melly Böwe wird emotional stärker in den Fall gesogen, als ihr lieb ist: Ihre Tochter Rose (Emilie Neumeister) taucht überraschend auf und will gefälligst wissen, wer ihr Vater ist. In dem Konflikt zwischen den beiden spiegelt sich der Fall Milan und Eva, und es ist nur dem lakonischen Drehbuch (Catharina Junk und Elke Schuch) zu verdanken, dass diese Parallele nicht so erzwungen wirkt, wie sie sein könnte.
Der Film ist durchweg hervorragend besetzt, und die ruhig beobachtende Regie von Alexander Dierbach voller Nahaufnahmen macht das Misstrauen umso offensichtlicher, mit dem sich hier alle gegenseitig beäugen. Wie jeder einen Schuldigen findet, bei dem er Ängste und Unsicherheiten abladen kann. Milan wird zur Projektionsfläche unerwarteter Emotionen. Ein Opfer, das sich selbst nicht traut, weil niemand ihm traut. "Böse geboren" ist ein eindringliches Familiendrama, das daran erinnert, wie einfach es sein kann, jemanden böse zu machen, ganz unabhängig von genetischer Veranlagung.