Während Hunderttausende in den Bierzelten auf dem Münchner Oktoberfest feiern, versorgen jeden Tag 140 Sanitäter und 15 Ärzte Verletzte, Betrunkene und alle, die es sonst noch brauchen. Eine Schicht in der Aicher Ambulanz Union.
Mitten auf der Theresienwiese liegt ein Mann auf dem Boden. Zwischen der "Würstlprinzessin" und der "Hühnerbraterei" hat die Polizei ihn in die stabile Seitenlage gebracht. Ein Polizist kniet vor ihm, fünf weitere stehen um ihn herum. "Weitergehen! Gehen Sie weiter, hier gibt’s nichts zu sehen!", ruft einer von ihnen den Leuten zu, die mit großen Augen stehen bleiben.
Es ist Montag am späten Nachmittag, als das Team der "Trage 1" der Aicher Ambulanz den Patienten erreicht. Er ist betrunken, gestürzt, hat sich am Fuß verletzt und kann nicht mehr aufstehen. Das ist auch der Grund, warum die Sanitäter kommen, nicht wegen "Intoxikation", also "besoffen halt", wie Sanitäter Moritz (20) sagt. Das trifft tatsächlich nur auf rund ein Drittel der Patienten zu. "Vollräusche gehen zurück", sagt Michel Belcijan, Betriebsleiter der Aicher Ambulanz Union.
Für eine Trage sind fünf Leute zuständig
- Mindestens ein Notfallsanitäter und bis zu vier Rettungssanitäter sind für eine Trage zuständig. Notfallsanitäter haben die höchste nichtärztliche Ausbildung, die es in Deutschland gibt.
Drei Polizisten sind nötig, um den großen, stämmigen Mann, der sich als Ludwig vorstellt (Name geändert), auf die Trage zu hieven. Rettungssanitäterin Linda (19) hilft mit und zerrt Ludwig am Bund seiner Lederhose in die richtige Position.
Sanitäter: "Werden manchmal angespuckt"

Kaum ist der Sichtschutz über den Verletzten geschoben, geht es auch schon in Richtung Ambulanz. Moritz läuft vorneweg und pfeift die Leute mit einer pinken Trillerpfeife aus dem Weg. Das klappt jedoch nur bedingt, die Sanitäter müssen die Menschen teilweise mit ihren Armen zur Seite schieben. Der Weg zur Ambulanz wird von Blicken und Beleidigungen der Wiesn-Gäste begleitet. Für das Rettungsteam ist das nichts Neues. "Solange es nur Beleidigungen sind, ist alles gut", sagt die 23-jährige Chrissie, die sich zur Notfallsanitäterin ausbilden lässt, im Moment jedoch den verletzten Ludwig über die Festwiese schiebt. Moritz ergänzt: "Manchmal gehen auch die Fäuste hoch oder wir werden angespuckt."
Ludwig bekommt davon nichts mit. Er hat zwar Schmerzen, ist aber betrunken und gut gelaunt. "Wenn du speiben musst, sagst du mir Bescheid, ja?", mahnt ihn Sanitäterin Chrissie. Speiben muss Ludwig zwar nicht, aber ihre Telefonnummer hätte er gerne – natürlich nur, um sich hinterher ordentlich bei ihr bedanken zu können, wie er lallend erklärt. "Meine Nummer bekommst du nicht", sagt Chrissie und lacht, während sie ihn gemeinsam mit ihren Kollegen in Richtung Ambulanz schiebt.
Die Aicher Ambulanz Union auf dem Oktoberfest ist die größte Nothilfe Deutschlands. Sie befindet sich in einem schwarzen Gebäude, dem Servicezentrum, hinter der Schottenhamel-Festhalle. In dem engen Eingangsbereich für liegend ankommende Patienten steht der Chef der Ambulanz, Peter Aicher. Neben ihm ein Trupp Personen in Tracht, alle drücken sich an die Wand, um dem Sanitätsteam der "Trage 1" Platz zu machen. "Da schau', Ludwig, dein Empfangskomitee", scherzt Chrissie. Der Chef der Ambulanz heißt den Neuankömmling höchstpersönlich willkommen.

Händchen und Kotztüte halten
Ludwig liegt jetzt mittendrin und wird gesichtet, so nennt man das. "Triage" ist der medizinische Ausdruck. Ein Arzt und ein Sanitäter stehen permanent bereit, schauen sich jeden Patienten und jede Patientin genau an. Nur Rausch ausschlafen? Dann geht’s in den Überwachungsraum. Was Schlimmeres? Ab in den Akut-Raum, eine Mini-Intensivstation.
Viel ist nicht los, aber eine kleine Schlange aus Tragen hat sich gebildet. Hinter Ludwig liegt ein Mann in Lederhosen, überall tätowiert. Er hat die Augen geschlossen und atmet schwer. Die Kotztüte liegt bereit, ein bisschen ist schon drin. Der Sanitäter neben ihm trägt einen schwarzen Vollbart und weiße Klamotten, streichelt seine Hand, beruhigt den Mann. Dann kommt die Kotztüte wieder zum Einsatz.
Für Ludwig geht es gleich weiter. "Vorher gibt’s no a Klubbandel", sagt der Arzt, der ihn sichtet. Er klebt Ludwig ein Papierbändchen ums Handgelenk. Auf seinem rechten Fuß liegt ein riesiger Pack aus Eis. Dann kommt der 41-Jährige in den Behandlungsraum und auf ein anderes Bett. Ein blauer Vorhang sorgt für ein bisschen Privatsphäre.
"Seit ich das hier alles so sehe, gehe ich nicht mehr aufs Oktoberfest."
Bei der Triage ist nun Schichtwechsel. Brian (27) ist jetzt nicht mehr im Trage-Team, sondern zieht sich die neongelbe Weste an, die die Ärzte und Sanitäter beim Sichten tragen. Er arbeitet 16 Tage auf der Wiesn. Also jeden. Dafür ist er extra aus Berlin gekommen und hat sich Urlaub genommen. Brian ist Notfallsanitäter, die höchste nichtärztliche medizinische Ausbildung in Deutschland. Es ist sein drittes Jahr in Folge auf der Wiesn.
Er macht eine Doppelschicht, von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts. Am nächsten Tag ebenso, danach fährt er noch Rettungsdienst, von 2 Uhr bis zum nächsten Morgen. Schläft er auch irgendwann? "Ja, hier", sagt Brian und lacht. "Zwischen den Schichten oder wann immer es geht." Also in der Ambulanz.
Für Linda und Moritz ist die Schicht jetzt vorbei, Chrissie und die fünfte Kollegin laufen nun bei anderen Tragen mit. Auch sie machen eine Doppelschicht. Alle machen das freiwillig und ehrenamtlich, sie lieben ihren Job. Die Wiesn allerdings nicht. "Seit ich das hier alles so sehe, gehe ich nicht mehr aufs Oktoberfest", sagt Chrissie. Erlebt haben alle, die hier arbeiten, schon so gut wie alles.
Wenn es doch nur Koks war
Letztes Jahr, erzählt Brian, sei ein Mann hergebracht worden, der so zugekokst gewesen sei, dass sich seine Gefäße im Gehirn derart verschlossen hätten, dass ihm sogar der Wimpernschlag große Schmerzen bereitet hätte. "Weil wir dachten, es wäre was Schlimmeres, kam er schließlich ins Krankenhaus", erzählt der Notfallsanitäter. "Am Ende kam dann aber raus: Es war nur Koks."
Im Zimmer hinter Brian schläft eine junge Frau tief und fest, eine weitere wird gerade reingebracht. Sie trägt ein schwarzes Kleid, das gerade noch so als Dirndl durchgeht, und muss von zwei Sanitäterinnen gestützt werden. Laufen kann sie fast nicht mehr. "Hier kommt die Nächste", sagt eine der Sanitäterinnen und lacht. Da muss auch die Frau im Fake-Dirndl grinsen, bevor sie sich endlich hinlegen kann.
Zur Triage kommt nun auch ein neuer Arzt. Er hat einen Schnurrbart, trägt Weiß und hält Brian, mit dem er die nächsten Stunden sichtet, seine Hand zum Einschlagen hin. "Servus", sagt er fröhlich. Beste Freunde? Mitnichten. "Du warst letztes Jahr auch schon hier, oder?", fragt der Arzt. Brian nickt. Beste Stimmung in der Ambulanz.
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Auch Ludwigs Lachen ist aus dem Behandlungszimmer zu hören. Die Ärzte und Sanitäter der Aicher Ambulanz versuchen, die Münchner Kliniken so gut es geht zu entlasten, sagt Betriebsleiter Belcijan. Das heißt, alle Patienten sollen komplett dort versorgt werden. Das klappt oft, bei Ludwig leider nicht. Sein Mittelfuß ist vermutlich gebrochen. Der blaue Vorhang wird wieder aufgezogen. Für ihn geht es auf die nächste Trage und dann ab in den Krankenwagen. Sein Lachen ist auch von dort noch zu hören.