Zwischen Hoffnung und Resignation liegen nur 34 Minuten. Das hat das Champions-League-Halbfinale FC Bayern München gegen Real Madrid bewiesen. Nicht nur für die Bayern-Spieler war der gestrige Abend ein Wechselbad der Gefühle. Auch deren Fans mussten leiden und Spott über sich ergehen lassen. Der Erlebnisbericht eines Bayernfans.

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München. Gegen 21.20 Uhr. Das Spiel FC Bayern München gegen Real Madrid ist nur 34 Minuten alt. Trotzdem ist alles schon vorbei. Cristiano Ronaldo trifft zum 3:0 für die Spanier – und damit spätestens den letzten Bayernfan mitten ins Herz.

Auch in einer Wohnung in der Innenstadt Münchens ist das letzte Fünkchen Hoffnung gestorben. "Ich geh jetzt ins Bett", stammelt einer und verschränkt die Arme. "Mein Gott, jetzt ist’s komplett vorbei", sagt ein anderer. Ich bin einer von fünf Bayernfans in dieser Wohnung. Reflexartig katapultiert es mich hoch von der Couch. Ich halte es nicht mehr aus vor dem Fernseher, verlasse den Raum. Ich fluche wie ein Kesselflicker, resigniere: "Ich will nicht mehr. Ich gehe heim."

"Dann geh heim, du Erfolgsfan!"

Ich verlasse das Wohnzimmer, stehe im Gang. Und weiß eigentlich gar nicht, warum ich da stehe. Ich bin wie in Trance hinausgegangen. Wenn ich schon mal da bin, denke ich mir, nutze ich die Gelegenheit und gehe auf die Toilette. Ich öffne die Tür, stampfe hinein und pralle mit dem Fuß gegen die Ecke der Dusche. Meine Flucherei erreicht einen neuen Höhepunkt. Als ich eine Minute später mit schmerzendem Zeh ins Wohnzimmer zurückkehre, motzt mich ein Freund an: "Dann geh halt heim, du Erfolgsfan!"

Eigentlich beginnt der Fußballabend, wie er beginnen soll: Fünf Freunde sitzen im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Zwei kommen kurz vor dem Spiel an. Einer trägt noch sein Hemd, das er in der Arbeit anhatte. Er hatte keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Das Bier steht auf dem Tisch. Kalt, frisch aus dem Kühlschrank. Fünf Bierflaschen erheben sich, stoßen zusammen. Prost. Die Arbeit hinter sich lassen, jetzt zählen nur noch die Bayern.

20.45 Uhr. Das Spiel beginnt. Die bestellten Pizzen kommen zwar erst nach dem Anpfiff. Das ist aber verschmerzbar. Es ist noch nicht viel passiert. Die Stimmung in der Allianz Arena ist so gut wie lange nicht mehr. Das schwappt sogar auf die heimische Couch über. Wir brüllen auf den Fernseher ein, klatschen und kommentieren das Spiel.

Schock, Resignation - aber ein Fünkchen Hoffnung

Nur 16 Minuten später verschiebt sich unsere Fußballwelt. Sergio Ramos köpft zum ersten Mal ins Tor. Schock. Resignation. Doch die Hoffnung lebt nach kurzer Erholungsphase weiter. "Das kann trotzdem noch klappen", sage ich. 18 Minuten später ist dieser Hoffnungsfunke vollständig erloschen. Es steht 0:3. Vorbei.

In der Halbzeitpause stehen wir zu dritt auf dem Balkon und rauchen. Stille. Die Köpfe sind gesenkt, wir starren auf den Boden. Einer versucht das Schweigen zu brechen: "Und sonst so?". Meine Antwort: "Nichts." Der Versuch, abzulenken oder gar ein Gespräch anzukurbeln, misslingt. Wieder Schweigen.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit ist der größte Schock verdaut. Die Gespräche werden sachlicher. Wir müssen uns eingestehen, dass Real Madrid einfach alles besser macht als die Bayern. Abwehr, Raumdeckung am Strafraum und Konter. Überragend. Wir erfreuen uns wieder an der Stimmung im Stadion. Die Fans singen "Europapokalsieger" und feiern unsere Mannschaft. Die hat es auch verdient. Der FC Bayern hat sich innerhalb zweier Saisons viel Kredit erspielt. Das darf man nicht vergessen.

Selten so ein demütigendes Gegentor erlebt

Das 0:4 durch Cristiano Ronaldo schockt mich trotzdem ordentlich. Es fühlt sich an wie ein Dolchstoß in den Rücken. Den Freistoß in der 89. Minute schlenzt er unter die springende Münchner Mauer hindurch ins Tor. Selten habe ich ein Gegentor erlebt, welches so demütigend ist wie dieses. Ich erinnere mich an Ronaldinhos Freistoßtreffer 2006 gegen Werder Bremen, der fast genauso fiel. Nur schmerzt es mich dieses Mal umso mehr. Schließlich ist dieses dumme Tor nun gegen meinen Verein gefallen.

Kurz nach dem Abpfiff verlassen wir die Wohnung. Wir verabschieden uns vom Gastgeber und gehen Richtung S-Bahn. Nach Hause, schlafen und das Spiel möglichst schnell vergessen. Am Bahnhof kommt uns ein etwa 25-jähriger Mann entgegen. Er grinst. Mir ist klar, dass er bereits die Bayerntrikots erspäht hat. Er fragt uns scheinheilig mit einem noch breiteren Grinsen als vorher: "Wisst ihr zufällig, wie das Spiel ausgegangen ist?" Im Hintergrund kichern seine Kumpels. Wir gehen weiter und murmeln: "0:4". Der Mann springt herum und höhnt: "Ohhh, ehrlich? Jungs, habt ihr das gehört? 0:4!" Daraufhin lachen sie noch lauter. Was für witzige Kerlchen.

Warum wir uns nicht mit ihnen angelegt haben? Ganz einfach: Der Spott ist uns egal. Um solche Häme heraufzubeschwören, dass muss sich eine Mannschaft erst verdienen. Sollen sie ihre fünf Minuten Freude haben. Sie müssen in den vergangenen zwei Jahren schrecklich gelitten haben.

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