Am Samstag starten in Tokio die Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Im Vorfeld haben wir mit Ex-Zehnkämpfer Frank Busemann über die Medaillenkandidaten, die Situation der deutschen Leichtathletik und die Zukunftsaussichten gesprochen.
Nein, Sorgen macht sich
2023 blieb das deutsche Team komplett ohne Medaille. Busemann geht von einer besseren Ausbeute aus. Wir haben mit ihm über die Medaillenkandidaten, die Situation der deutschen Leichtathletik und die Zukunftsaussichten gesprochen.
Herr Busemann, wie groß sind Ihre sportlichen Sorgen vor der Leichtathletik-WM?
Ich höre immer auf meinen Bauch und der sagt mir: mit Optimismus und Vorfreude nach Tokio fahren. Den Tiefpunkt von Budapest haben wir abgehakt. Es sind viele Leute dabei, die überraschen können. Ob es dann ganz nach vorne reicht, wird man sehen. Wir haben ein paar klare Medaillenkandidaten, vielleicht auch eine Überraschung, die man nicht unbedingt auf dem Schirm hat. Es muss nicht passieren, aber es kann.
Ganz konkret: Worauf dürfen wir hoffen?
Die vier Medaillen von Paris haben den Blick etwas verklärt, das war fast zu gut. Realistisch ist: zwei, drei Medaillen wären ein gutes Ergebnis. Sieben oder acht Medaillen wie früher werden wir bei Weltmeisterschaften nicht mehr erleben. Null oder nur eine wäre dagegen enttäuschend.
Weber ohne Medaille? "Fast schon ein Rückschlag"
Wer hat die besten Chancen auf Edelmetall?
Speerwerfer
Wo sehen Sie Zehnkämpfer
Neugebauer ist für mich die stärkere Bank, aber Kaul ist einer, der immer da ist, wenn jemand schwächelt. Das hat er schon zweimal gezeigt. Er hat Neugebauer in Götzis geschlagen – das zeigt, dass er da ist.
Marie Steinacker haben Sie im Diskus nicht auf dem Zettel?
Die Konstanz ist dieses Jahr nicht da, das hört sich jetzt hart an. Platz zwei oder drei ist immer eine Option, wenn mal jemand patzt – aber die Konstanz hat sich bisher nicht so gezeigt, dass man sagt: Da fliegt mal einer raus und sie rutscht nach vorn. Es müsste schon ein perfekter Wurf passen. Kann passieren, aber Stand jetzt sehe ich sie nicht als Medaillenkandidatin.
Die 4x100-Meter-Staffel der Frauen hat 2024 in Paris sensationell Bronze geholt. Lässt sich das wiederholen?
Paris hat gezeigt: Wenn wirklich alles zusammenläuft, dann kann so ein Ding auch mal aufgehen, obwohl sie läuferisch nicht so stark sind wie sechs, sieben andere Staffeln. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das noch einmal so funktioniert wie in Paris. Wäre natürlich großartig, aber das war schon eine außergewöhnliche Nummer.
Bei Kugelstoß-Olympiasiegerin
Die Top drei sind derzeit weg. Sie müsste Bestleistung stoßen, um auf das Podium zu kommen. Das wird sehr eng. Man darf aber nicht vergessen: Wer hätte in Paris nach dem ersten Stoß noch gedacht, dass sie gewinnt? Trotzdem: Wer eine Medaille will, muss deutlich über 20 Meter stoßen und ob sie das gerade abrufen kann, ist fraglich.
Busemann sieht zwei Goldkandidaten
Gibt es denn eventuell sogar goldene Gelegenheiten?
Weber und Neugebauer müssen einfach das zeigen, was sie können, dann reicht das normalerweise für Gold. Sie müssen eigentlich nicht einmal über sich hinauswachsen.
Gibt es deutsche "Geheimtipps", die vielleicht noch nicht jeder auf dem Zettel hat?
Ich persönlich bin Fan von Hammerwerfer Merlin Hummel, der ist stabil und stark. Gerade in den technischen Disziplinen ist viel möglich. Hummel hat jedenfalls nichts zu verlieren. Christina Honsel hat sich im Hochsprung selbst offensiv in Stellung gebracht. Sie sagt: Wenn ich zwei Meter springe, kann ich auch eine Medaille holen. Das finde ich gut – sie versteckt sich nicht, sie geht offensiv rein. Natürlich wird es schwer, da braucht es eine Top-Höhe gleich zu Beginn. Aber genau das macht den Reiz und die Faszination der Leichtathletik aus: Es kann immer passieren.
Sie kennen diesen Druck bei großen Ereignissen selbst. Was ist entscheidend, damit ein Athlet auf den Punkt liefern kann?
Man muss vollkommen von sich überzeugt sein. Den Gedanken "Was, wenn ich scheitere?" darf es gar nicht geben. Wenn man anfängt, nach links und rechts zu schauen, sich Sorgen zu machen, ob alles klappt, wird es schwierig. Es muss ein Guss und der Kopf muss komplett frei sein. Wettkampferfahrung spielt dabei eine zentrale Rolle. Deshalb ist es wichtig, dass auch jüngere Athleten dabei sind, um Erfahrungen zu sammeln. Nur so wächst man da hinein.
Deutsche Top-Athleten "haben Riesendruck"
Sie sprechen den Kopf an: Wie ist die Drucksituation bei den deutschen Top-Athleten?
Die haben Riesendruck, klar. Denn die ganze Hoffnung der deutschen Leichtathletik lastet auf ihren Schultern. Und für die Stimmung im Team ist es ein Unterschied, ob man mit Medaillen und einer Flasche Sekt zurückkommt. Sie können das ab, aber leicht ist das nicht. Leo Neugebauer hat das vor zwei Jahren in Budapest gezeigt: Nach dem ersten Tag ging er als Führender ins Bett und kam als ganz anderer Athlet wieder raus. Da standen wir noch zusammen und haben gesagt: "Gut, dass das passiert ist. Das kann dich jetzt nicht mehr schocken."
Wie geht man damit um – gibt es ein probates Mittel gegen Druck?
Man muss es erlebt haben. Schiss haben bringt nichts, da steht man sich nur selbst im Weg. Klingt einfach, ist aber schwer umzusetzen. Kopf und Vernunft sagen das eine – Herz und Bauch fühlen etwas anderes. Heute sind zudem Psychologen Teil der Mannschaft, die helfen, indem sie solche Situationen mit den Athleten vorher durchsprechen.
2023 gab es keine Medaille: Befinden wir uns noch im freien Fall oder ist der Boden erreicht?
Ich schaue immer: Wer liefert beim Saisonhöhepunkt seine beste Leistung ab – Saisonbestleistung oder sogar persönliche Bestleistung? Das ist entscheidend. In Eugene 2022 war es unterirdisch, so etwas habe ich selten gesehen. Auch wenn wir mit zwei Medaillen nach Hause gefahren sind, war das enttäuschend, weil alle schon die Europameisterschaft in München im Kopf hatten. In Budapest war es ähnlich. Aber ich glaube nicht, dass wir solche Stimmungen noch einmal erleben werden. Das war ein Tiefpunkt, der so nicht wiederkommt.
Werden denn bereits die richtigen Schlüsse gezogen, damit es aus sportlicher Sicht besser wird?
Es wird an Stellschrauben gedreht. Aber am Ende wissen wir ohnehin erst in ein paar Jahren, ob es funktioniert hat. Ich habe das Gefühl, wir sind auf einem ganz guten Weg. Was letztlich zum Erfolg führt, ist manchmal auch Glück. Ich erinnere mich an Göteborg 1995: kein Zehnkämpfer, keine Siebenkämpferin kam ins Ziel. Ein Jahr später auf einmal sechs Leute. Manchmal ist Sport eben so.
Deutsche Leichtathletik: Top 8 sollte das Ziel sein
Wo steht die deutsche Mannschaft im internationalen Vergleich?
Wir gehören nicht mehr zu den großen Leichtathletik-Nationen, nicht zu den Top 5. Aber die Top 10 sollten der Anspruch sein. Und die Top 8 das Ziel.
Welche Bedeutung hat eine WM für den Sport hierzulande noch? Kann man mit Erfolgen bei einer WM noch Millionen vor den Fernseher locken?
Nein, nicht mit einer Weltmeisterschaft und nicht mit einer Weltmeisterschaft in so einer Zeitzone wie in Japan. Das funktioniert nur bei einer Heim-WM, wie damals in Berlin, wenn zusätzlich die Erfolge da sind. Olympia ist doppelt so groß wie eine WM. Eine WM allein reicht in der Leichtathletik nicht mehr, um die breite Masse in Deutschland in Bewegung zu setzen.
Der Schlüssel dafür sind Helden?
Genau. Athleten, die Leistung bringen und gleichzeitig Geschichten erzählen, auch über Social Media. Das ist heute entscheidend, um junge Leute zu erreichen. Leo Neugebauer ist da ein gutes Beispiel: ein Zehnkämpfer, der zugleich Influencer ist. Diese Mischung ist ein Riesenpfund für die Vermarktung.
Sie hatten nach der WM 2023 gesagt, man schaffe Leistung ab, gesellschaftlich müsse sich etwas ändern. Sie hatten zudem moniert, Sport habe keine Wertigkeit mehr. Ist es besser geworden?
Es geht immer noch bergab. Aber der Aufschrei damals war groß und es wurde endlich mal wieder über Leistung diskutiert. Viele sagen: "Ich habe früher nur eine Teilnahmeurkunde bekommen – und hat’s mir geschadet? Nein." Das ist ein gesunder Ansatz: Leistung wieder einordnen, klassifizieren, akzeptieren, dass nicht jeder überall der Beste ist. Aber das geht nicht über Nacht, dass wir einfach mal das Mindset ändern und alles wird wieder gut. Kopf, Herz und Bauch müssen zusammenkommen, damit es eine innere Überzeugung wird.
Wie viel Zeit braucht dieser Wandel?
Das geht nicht in Monaten. Wir reden von Jahren, vielleicht sogar von ein, zwei Generationen.
Und wann könnte sportlich der Turnaround gelingen?
Das zeigt jede Vergabe der Olympischen Spiele. Der Ausrichter hat sieben Jahre Zeit von Vergabe bis zu den Spielen, um eine schlagkräftige Mannschaft auf die Beine zu stellen. Das schaffen die meisten auch und das hat eine Nachhaltigkeit. Die Franzosen, die Engländer – nach Olympischen Spielen sind diese Nationen sportlich einfach stärker.
Die Lösung: Olympia nach Deutschland
Das heißt, die simple Lösung wäre tatsächlich, Olympia nach Deutschland zu holen?
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Ja, das wäre super. Dann bekommt der Sport wieder einen Stellenwert, eine Wertigkeit, dann kann man erleben, dass Sport nicht nur anstrengend, scheiße und mit Kosten verbunden ist, sondern dass er auch Emotionen weckt, eine Gemeinschaft, ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Wie optimistisch sind Sie, dass Deutschland den Weg dahin findet?
Bis letztes Jahr hätte ich gesagt: Ich erlebe das nicht mehr. Aber Paris hat gezeigt: Die Franzosen haben es hingekriegt und das hat auch in Deutschland für einen Ruck gesorgt. Ich spüre eine positivere Stimmung, nicht nur die Skepsis. Die Stimmen der Befürworter werden langsam lauter, auch wenn sie noch nicht so durchdringen wie die der Kritiker. Deshalb sage ich: Es gibt eine kleine Chance – schwer, aber nicht unmöglich.
Über den Gesprächspartner:
- Frank Busemann hat als Zehnkämpfer bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta Silber geholt, ein Jahr später bei der WM in Athen Bronze. Im Sommer 2003 trat er zurück. Heute ist er unter anderem als TV-Experte für die ARD tätig, aber auch als Redner.