Am Sonntag tritt Timo Boll endgültig von der Tischtennis-Bühne ab. Im Rahmen einer Dyn-Dokumentation wurde der 44-Jährige ein Jahr lang begleitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Das Gute: Fortsetzung folgt.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Andreas Reiners dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Timo Boll musste kurz schlucken. Man sollte eigentlich meinen, dass sich die Tischtennis-Legende in den letzten Monaten ausreichend auf das Karriereende vorbereiten konnte. Doch es gibt immer wieder Momente, in denen alles noch einmal hochkommt: die Erfolge, die Rückschläge, die Emotionen. Ein Beispiel für so einen Moment: der Trailer zur achtteiligen Dokumentation "Timo Boll - Der letzte Aufschlag".

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"Ich hatte zum Glück ein paar Momente Zeit, mich wieder zu fangen nach dem Trailer. Da gehen einem doch nochmal die Gefühle ein bisschen durch", sagte er in einer Medienrunde zur Vorstellung der Doku, nachdem der Trailer abgespielt wurde.

Denn diese Doku zeichnet die außerordentliche Karriere des 44-Jährigen detailreich nach. Sie taucht aber nicht nur in das Sportliche ein, sondern zeigt Boll auch privat. "Ich bin jemand, der die Medien eigentlich nicht so nah an sich heranlässt", erklärte Boll. "Aber das ganze Projekt ist eine kleine Zeitreise durch die Karriere. Und es macht echt sehr viel Spaß, nochmal an die schönsten und bittersten Momente erinnert zu werden."

Das gilt auch für den Zuschauer, der in den ersten fünf der insgesamt acht Folgen, die bei dem Streamingdienst "Dyn" zur Verfügung stehen, Boll in seiner letzten Saison begleitet. Die sportliche "Abschiedstournee" bildet den Rahmen und den roten Faden für die zwischen 30 und 40 Minuten langen Folgen. Dafür wurde Boll über Monate begleitet und immer wieder interviewt. Auch Weggefährten wie Dirk Nowitzki, Dimitrij Ovtcharov, Bundestrainer Jörg Roßkopf oder Borussia Düsseldorfs Trainer Danny Heister kommen zu Wort. Archivbilder werden eingesetzt und ermöglichen so immer wieder emotionale Rückblicke.

Boll emotional vor Abschied: "Das ist nochmal heftiger"

Timo Boll bestreitet am Sonntag sein letztes Profi-Spiel, mit seinem Klub Borussia Düsseldorf geht es in Frankfurt noch einmal um die deutsche Meisterschaft. Vor dem Bundesliga-Finale spricht Deutschlands Tischtennis-Idol über den emotionalen Abschied und seine Zukunft.

Timo Boll lernt sich besser kennen

"Wir sind ziemlich tief in die Materie eingedrungen, in mein persönliches Ich", sagte Boll. "Und ich habe mich selbst ein bisschen besser kennengelernt, weil ich sehr viel über mich nachgedacht habe. Auch aufgrund der vielen Fragen, die mir gestellt worden sind."

Wohltuend ist, dass die Doku sich dafür sehr viel Zeit nimmt. So entsteht ein entschleunigtes, aber ehrliches Porträt eines Ausnahmesportlers, der nicht so im Mittelpunkt stand wie andere, mit denen er aufgrund seiner zahlreichen Erfolge auf einer Stufe steht.

Boll hat den falschen Sport betrieben

Selbst Menschen, die mit Tischtennis nicht so viel am Hut haben, werden seine imposante Laufbahn in Fragmenten mitbekommen haben. Wie so oft bei den kleineren Sportarten vor allem dann, wenn Olympische Spiele anstanden. Oder Boll seine zahlreichen Erfolge einsammelte, ob bei Olympia, Welt- oder Europameisterschaften.

Der Mensch hinter dem Sportler bleibt trotzdem oft zum Großteil verborgen, weil das mediale Interesse an Randsportarten auf Großereignisse begrenzt ist. "Er ist auf der Ebene der internationalen Superstars unterwegs. Er hat, wenn man es böse formuliert, das Pech, dass er den falschen Sport betreibt", sagt es ARD-Kommentator Mathias Arians in der Doku treffend.

Umso interessanter sind die Blicke hinter die Kulissen, die es einem ermöglichen, den Menschen zum Ende der Karriere hin noch einmal näher kennenzulernen. So ist das beschauliche Höchst im Odenwald die Heimat und die Oase der Ruhe, der Rückzugsort. Dort absolviert er in der vereinseigenen TSV-Halle noch einmal eine letzte Einheit.

Dazu zeigt er bei seinen Eltern sein einstiges Kinderzimmer, in dem die Mama seine Trophäen pflegt. Wie beiläufig verrät die Doku dann kleine Geheimnisse. Zum Beispiel die überraschende Tatsache, dass die Mutter sich immer noch nicht so wirklich für Tischtennis interessiert. "Sie bekommt nur am Rande mit, wie ich gespielt habe. Aber sie macht sich immer einen Kopf und behandelt mich teilweise immer noch wie einen 15-Jährigen", lacht Boll.

Doku passt sich Bolls Tempo an

Dabei passt sich die Doku, die ohne Erzähler auskommt, der Art Bolls an. Es geht ruhig und bedächtig zu, und die Kamera bleibt zurückhaltend und unaufdringlich. Die Doku plätschert deshalb zwischendurch auch ein wenig dahin. Doch dass sie keine laute und schnelle, sondern eine betont langsame Herangehensweise wählt, ermöglicht den etwas intensiveren und vor allem authentischen Blick auf seinen Charakter überhaupt erst. Das passt zur melancholischen Stimmung des Abschieds.

Es ist eben selten geworden und daher auch ungewohnt, dass eine filmische Annäherung an eine Karriere nicht auf Effekthascherei setzt. Die Doku ist stattdessen eine behutsame Verbeugung vor einem Sportler, der im Laufe seiner Karriere wahrscheinlich für seine Leistungen deutlich zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Die Folgen eröffnen dem Zuschauer aber auch sehr deutlich, warum Boll das gar nicht so ungelegen kam.

Pflicht-Programm für Fans

Für Tischtennis-Fans ist es Pflicht-Programm, für Sportinteressierte, die sich von einer leisen und liebevollen Erzählweise abgeholt fühlen, ebenfalls. Wer Tempo, Dramatik und große Gesten erwartet, ist hier falsch. Denn auf zu viel Pathos und eine Überinszenierung wird bewusst verzichtet.

Dafür geht es humorvoll zu. Wie bei dem Dialog mit einem weiblichen Fan, der vor einem Heimspiel ein Autogramm möchte. Beide haben aber keinen Stift dabei. "Dann holen wir es nach, wir sehen uns ja bestimmt nochmal", sagt Boll. "Ja, ich bin öfter hier", so die Anhängerin. Boll trocken: "Ich auch."

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Boll lässt die Nähe zu

Kleine, aber feine Momente, die diese Doku auszeichnen, ihr eine Nähe verleihen, die sie von anderen Filmen abhebt, die über eine gewisse Oberflächlichkeit nicht hinauskommen. Boll mag ungern im Mittelpunkt stehen, er lässt es aber zu, was den Episoden Tiefgang verleiht. "Es war nie unangenehm. Das war mir das Wichtigste: Dass ich mich immer wohlgefühlt habe und dass ich einfach auch natürlich sein konnte", sagte Boll über den Dreh.

Stark ist in dem Zusammenhang die fünfte Folge, die das fast schon surreale Phänomen seines Erfolgs in China beleuchtet. Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr Boll die Fans dort immer noch mobilisiert, wie sehr sie ihn anhimmeln.

Ein Gentleman, zuvorkommend, bodenständig - und gutaussehend

Das Geheimnis laut den Fans in aller Kürze: Er ist ein Gentleman, zuvorkommend, bodenständig, erfolgreich. Und ja, auch gutaussehend. Er wurde in China vor einigen Jahren nicht umsonst zum "Sexiest Man Alive" gewählt, noch vor David Beckham. "Dass ich damals bei einer Wahl zum attraktivsten Sportler in China tatsächlich vor ihm gelandet bin, war schon surreal. Um ehrlich zu sein, war es mir sogar ein bisschen unangenehm", sagte er im Mai im Gespräch mit unserer Redaktion. So unangenehm ihm dieser Hype auch heute noch sein mag, in der Doku geht er souverän damit um.

Die Doku ist nicht zufällig jetzt erschienen, denn am Sonntag ist es wirklich endgültig vorbei. Das Playoff-Finale der Tischtennis-Bundesliga zwischen seinem Verein Borussia Düsseldorf und dem deutschen Pokalsieger TTF Ochsenhausen ist der letzte Auftritt in Bolls langer Karriere. Sein Rücktritt fühle sich "immer noch sehr, sehr richtig an. Ich glaube, es ist der richtige Moment für mich", sagte er.

Was die Doku betrifft, ist das Kapitel aber noch nicht ganz geschlossen. Die Folge eins ist kostenlos auf YouTube abrufbar, die Episoden zwei bis fünf bei Dyn. Dort werden dann am 16. August auch die restlichen drei Folgen veröffentlicht. Und wenn sie den Ton der bisherigen Serie halten, dann werden auch sie ein würdiger letzter Aufschlag sein. Einer, bei dem nicht nur Timo Boll noch einmal schlucken dürfte.

Verwendete Quellen: