Bei Nürnberg wird ein tiefes Grab entdeckt. Darin liegt das Skelett eines Fahrradhändlers, der seit zwei Jahren vermisst wurde. Alle haben ihn geliebt. "So gut ist doch kein Mensch", sagt Kommissar Voss. Natürlich wird er Recht behalten. Aber der eigentliche Star dieses "Tatort" ist der Mann an seiner Seite.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der "Tatort" ist zurück aus der Sommerpause. Es wird Herbst. Nürnberg hat nichts vom ländlichen Kopfsteinpflastercharme, den der fränkische "Tatort" sonst gern versprüht. Die Stadt ist hässlich, grau, verregnet. In der nahen Flussaue hat sich ein tiefes Grab aufgetan. Ein dunkles Loch in feuchter Erde. Darin liegt ein Skelett. Ein "Königgrab" sagt die Kriminaltechnikerin: geschaufelt "für die Ewigkeit."

Aber die ist jetzt zu Ende. Kommissar Voss muss ermitteln. Zum ersten Mal ohne Kollegin Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel), die sich vor der Sommerpause in den Ruhestand verabschiedet hat. Und dann ist er auch noch ausgerutscht und hat sich schlimm die Schulter verzerrt.

Wie soll man so arbeiten? In so einer Welt? Felix Voss hat ja einen Hang zur melancholischen Analyse von Gut und Böse und den Grenzen seines Tuns – und dieser Fall wird ihm ganz schön viel zu denken geben. Darüber, dass man nicht nur oft zu spät kommt. Sondern manchmal vielleicht auch zu früh.

Ein Skelett als tickende Zeitbombe

"Ich sehe dich" ist der "Tatort" der missmutigen Menschen. Genervte Nachbarn in kalten Hausfluren. Enttäuschte Zeugen voller Traurigkeit. Fahle Gesichter im Neonlicht des Kommissariats, das so trostlos wirkt, dass hier jeder zum Verbrecher werden könnte.

Erste Erkenntnisse der Ermittlungen: Das Skelett gehört Andreas Schönfeld. Der Fahrradhändler galt seit zwei Jahren als vermisst. Andreas (Benjamin Schaefer) war sehr beliebt, furchtbar nett und wahnsinnig hilfsbereit. "Sein Lieblingswort war 'ja'", sagt seine Mutter. Das kann ja gar nicht sein, sagt Voss, so gut sei doch kein Mensch.

Hieße das nicht, dass auch Voss nicht so nett und freundlich sein kann, wie er immer scheint? Aber mit dem Gedanken kann man sich jetzt nicht aufhalten, es muss schnell weitergesucht werden.

"Ich sehe dich" legt mitunter eine Dringlichkeit und Dramatik an den Tag, als gehe es um eine tickende Zeitbombe. Dabei ist der Mann doch seit zwei Jahren tot, denkt man sich. Der Mörder hat zwei Jahre Vorsprung – auf einen Tag mehr oder weniger kommt's jetzt doch auch nicht an?

Wenn es laut wird, wird's bedeutungsvoll

Der Grund für das unentschiedene Tempo: Dieser "Tatort" hat künstlerische Ambitionen. Das funktioniert manchmal, und über weite Strecken funktioniert es nicht. Ein Blick auf den Filmstab – Drehbuch: Max Färberböck und Catharina Schuchmann, Regie: Färberböck und Danny Rosness – wirft die Frage nach dem Brei auf, den zu viele Köche verdorben haben.

Es ist einer dieser Filme, deren Musik, Kameraeinstellungen und Tempo dem Fernsehpublikum unbedingt etwas sagen wollen; man weiß aber nie so recht, was. Die auffällig ungewöhnlichen Perspektiven, das dramatische Anschwellen der Musik, das laute Hämmern der Percussion an den seltsamsten Stellen, dann sanfte Klavierklänge, die wiederum ganz erwartungsgemäß nachdenkliche Momente begleiten – "Ich sehe dich" kann sich nicht entscheiden, ob es rasante Verbrecherjagd oder eine poetische Meditation über das Verbrechen sein will.

Eine Speicherkarte voller Frauen

Im Zimmer des Toten finden sich Speicherkarten mit Fotos von Dutzenden Frauen, die Andreas Schönfeld auf der Straße fotografiert hat. Was ja eigentlich noch kein Verbrechen ist. Aber Felix Voss raunt: "Jedes Bild eine Möglichkeit". "Kein Kontakt. Nur Phantasie." Mit Holzhammer-Poesie wird das Publikum in die richtige Richtung geschubst: "Er raubt ihnen ihre Intimität", sagt Felix Voss. Kollegin Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) antwortet: "Das ist ja grausig." So als Frau ist sie natürlich besonders empfindlich. Später muss sie noch fast weinen.

Denn selbstverständlich hat Felix Voss recht. Mit Andreas Schönfeld stimmte etwas ganz und gar nicht. Und es ist "Ich sehe dich" hoch anzurechnen, dass der Film die Opfer in den Mittelpunkt stellen will. Der Täter bleibt kaum mehr als ein Skelett. Ein schmutziges Knochengerüst. Stattdessen konzentrieren sich die Ermittlungen auf die Frauen aus den Bildern.

Die blinde Lisa

Eine davon ist Lisa Blum (Mavie Hörbiger). Lisa ist nicht nur blind. Lisa lebt auch in einer geschmackvollen Altbauwohnung. Lisa führt eine glückliche Beziehung mit einem kultivierten Nachbarn. Stephan Gellert (Alexander Simon) bringt der lieben Lisa Opern und guten Wein nahe. Ja, schon verstanden: Hier haben sich zwei ihre eigene, heile Welt erschaffen. Hier ist alles warm und farbig. Hier werden prätentiöse Dialoge geführt. Hier erreicht die Bedeutungsschwere von "Ich sehe dich" ihren Höhepunkt. Und drückt das dramatische Finale platt.

Natürlich regnet es am Ende von "Ich sehe dich". Nur das Gesicht von Fabian Hinrichs als Kommissar Voss kann dieses Ende retten. Darin sieht und spürt man den ganzen Schmerz. Darüber, dass die Welt schrecklich ist und ungerecht und dass man immer irgendwie zu spät kommt. Und manchmal vielleicht zu früh.

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Dieser "Tatort" braucht mehr Fred

Aber halt – noch einer rettet diesen Fall. Fahrer Fred (Sigi Zimmerschied). Nicht nur, weil er im entscheidenden Moment ungewöhnlich aktiv wird. Ein bodenständiger Sidekick für den gestressten Kommissar ist die beste Idee dieser Folge. Der Archivar aus dem Keller des Kommissariats wurde Voss wegen seiner Schulter kurzerhand als Chauffeur an die Seite gestellt. Lange Sätze haben bei Fred fünf Worte. Fred brummt, hustet, schweigt. Und wenn’s an der Zeit ist, pocht Fred auf das Ende seiner Schicht. Egal, wie schlecht die Welt ist.

Fred geht, aber Emilia Rathgeber (Rosalie Thomass) kommt. Die neue Kommissarin, die ab 2026 zum Nürnberger Team gehört, wird in der Ankündigung des Senders als "bodenständig" und "vital" bezeichnet. Nach dieser Episode sind das gute Aussichten.