Was undenkbar schien, ist seit Mittwochabend Realität: Benedikt Höwedes verlässt den FC Schalke 04. Sein Wechsel zu Juventus Turin hinterlässt viele Verlierer - insbesondere aber S04-Trainer Domenico Tedesco.

Meine Meinung
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Es war viel, für den neutralen Fan vielleicht sogar zu viel Pathos, den Benedikt Höwedes im Februar versprühte.

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"Mit klarem Verstand und pochendem Herzen", so teilte er über die sozialen Medien mit, habe er seinen Vertrag bis 2020 verlängert.

Ein für Schalke-Fans wichtiges Zeichen in Zeiten, in denen S04 den eigenen Ansprüchen weit hinterherhinkt und ein Spieler der gehobeneren Kategorie, zu der sich Höwedes als Weltmeister zählen darf, schon längst den Absprung hätte wagen können.

Zudem fielen in Höwedes' Statement Begriffe wie "Kumpel", "Malocher" und "Treue". Worte, die bei jedem Schalke-Fan besser runtergehen als ein frisch gezapftes Veltins.

Und nun, ein halbes Jahr später, wechselt der einstige Kapitän, der stolze Schalker, der Liebling der Fans nach 16 Jahren im königsblauen Trikot zu Juventus Turin.

Vom neuen Trainer Domenico Tedesco wurde Höwedes zu Saisonbeginn aus fadenscheinig wirkenden Gründen erst als Kapitän abgesetzt und dann in den ersten Pflichtspielen ignoriert. Der Verteidiger zog nun aus dieser Demontage die Konsequenzen.

Es ist ein Transfer, der viele Verlierer zu haben droht. Zum einen könnte man, und das ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, Höwedes vorwerfen, sich einer schwierigen Situation nicht zu stellen.

Doch dass ausgerechnet er, der jahrelang in schwierigen Zeiten stets als Erster den Kopf hingehalten hat und auch als Weltmeister nie durch Star-Allüren auffiel, bei der erstbesten Gelegenheit und ohne Not die Flucht ergreift, ist nur schwer vorstellbar.

Das Verhältnis zwischen Spieler und Trainer wurde durch die Absetzung offensichtlich nicht nur erschüttert, es wurde komplett zerstört - ohne großes Interesse seitens des Vereins daran, es wieder aufzubauen.

Die wahren Probleme werden nun daher nicht auf Höwedes, sondern auf S04-Manager Christian Heidel und insbesondere Cheftrainer Tedesco zukommen.

Letzterer, gerade einmal 31 Jahre alt, hat die Auswirkungen seiner Entscheidung, Höwedes peu à peu abzusägen, ganz offensichtlich unterschätzt.

Es ist ein Irrtum, der dem jungen Coach schon bald zum Verhängnis werden könnte. Tedesco hat völlig unnötig eine auch für ihn bedrohliche Situation geschaffen.

Und Heidel, 54 Jahre alt und fast die Hälfte seines Lebens im Profifußball tätig, hat ihn nicht davon abgehalten.

Wer den Weltmeister, zugleich die größte Identifikationsfigur des Klubs, öffentlich demontiert, bringt zwangsläufig die Anhänger gegen sich auf.

Gerade auf Schalke ist dies ein gefährliches Unterfangen. In womöglich keinem anderen Verein hat die Meinung der Fans mehr Gewicht als beim vor Emotionen sprudelnden Revierklub.

Doch nicht nur für Schalker war der gestrige Mittwoch ein schwarzer Tag. Der Fall Höwedes ereignet sich ausgerechnet in Zeiten, in denen die Sitten im Fußball ohnehin mehr und mehr verrohen.

Ein 20-Jähriger erpresst erfolgreich seinen Klub, Ablösesummen erreichen obszöne Dimensionen.

Und parallel wird ein verdienter Spieler, der die Werte seines Vereins wie kein anderer vorlebt, auf eine unwürdige Art und Weise fast schon vom Hof gejagt.

Doch auch aus sportlicher Sicht bleibt die Frage nach dem Warum von Tedescos Entscheidung: Sieht er Benedikt Höwedes tatsächlich nicht mehr als Stammspieler?

Auch wenn Höwedes - genauso wie fast alle seiner Teamkollegen - in der Vorsaison unter seinen Möglichkeiten blieb, dürften seine Fähigkeiten kaum ernsthaft angezweifelt werden. Und: Wer gut genug für Juventus Turin ist, muss erst recht gut genug für Schalke sein.

Es erhärtet sich vielmehr der Verdacht, dass der junge Tedesco, der vom kleinen Zweitligisten Erzgebirge Aue zum Traditionsklub Schalke wechselte, eine Duftmarke setzen und sein Profil stärken wollte.

Und dass ihm nie wirklich daran gelegen war, Höwedes zu halten. "Reisende soll man nicht aufhalten", sagte Tedesco unlängst.

Darauf reagierte Höwedes am Mittwochabend in einem emotionalen Abschiedsbrief. "Reisende kann man aufhalten, wenn man will", schrieb der Ex-Kapitän.

Ein klarer Seitenhieb gegen den Trainer - mit der eindeutigen Botschaft an die Fans: Ich wollte nie weg und möchte es eigentlich noch immer nicht. Aber wenn der Trainer mich nicht will, dann muss ich die Konsequenzen ziehen.

Die kurzzeitig vorhandene Ruhe auf Schalke ist - wieder mal - vorbei. Dabei war unter dem - wieder mal - neuen Trainer sogar eine gewisse Euphorie entstanden. Ein junger Coach mit einem klaren Matchplan, das waren die S04-Fans nicht gewohnt.

Durch den peinlichen Umgang mit Höwedes hat sich Tedesco nun aber viel Kredit verspielt. Diesen kann er lediglich mit sportlichen Erfolgen wiedererlangen.

Doch kommt auch er mit S04 nicht aus dem Mittelmaß heraus, werden die Fans schon bald ihren Daumen senken. Was das zur Folge hat, weiß nicht nur Tedesco. Und spätestens dann wird klar, wer in der Causa Höwedes der größte Verlierer ist.

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