Deutschland geht als klarer Außenseiter ins Viertelfinale gegen Frankreich. Die "Équipe Tricolore" ist in seiner Komposition vielleicht sogar noch stärker als Spanien und verfügt über die besten Flügelspielerinnen des Turniers. Es gibt aber auch ein paar kleine Schwachpunkte.
Wenn man sportlich schon kaum Ansatzpunkte oder sogar Schwächen finden kann bei der französischen Nationalmannschaft, dann klammert man sich vielleicht umso mehr an die Historie: Noch nie hat es die Equipe Tricolor der Frauen ins Finale eines großen Turniers geschafft. Und weder bei einer WM noch bei einer EM gab es bisher einen Sieg gegen eine deutsche Mannschaft.
Das war es dann aber auch schon mit den guten Nachrichten im Vorfeld des Viertelfinal-Krachers zwischen der DFB-Auswahl und den Französinnen, zumindest aus deutscher Sicht. Denn was in den bisher gut zweieinhalb Wochen des Turniers von beiden Teams zu sehen war, lässt nur einen Schluss zu: Im Kampf um den Einzug ins Halbfinale ist Frankreich der turmhohe Favorit.
"Wir haben alle gesehen, über welche Qualitäten Frankreich verfügt: Eine unglaubliche Dynamik, eine unheimliche individuelle Qualität und Tempo", sagte DFB-Sportdirektorin Nia Künzer und zählte dabei lediglich ein paar der herausragenden Attribute der französischen Auswahl auf.
Tatsächlich schafft es Trainer Laurent Bonadei wie noch keiner seiner Vorgänger, elementare Bestandteile des Spiels innerhalb seiner Mannschaft auf ein neues Level zu hieven und in bisher ungeahnter Qualität zu vereinen. Daraus entsteht eine derart explosive Mischung, mit der selbst der Topfavorit aus Spanien in einigen Disziplinen nicht mithalten kann.
Technik, Athletik, Kreativität
"Les Bleues" spielen bisher das nahezu perfekte Turnier. In der Hammergruppe mit England, Wales und den Niederlanden gab es drei Siege aus drei Partien und 11:4 Tore. Die Offensive der Mannschaft läuft wie ein bestens austarierter Motor, kombiniert höchstes Spieltempo mit Agilität und Geschicklichkeit, Dribblings mit einem sauberen Passspiel und die Wucht seiner Einzelkönnerinnen mit einem Plan, der eigentlich gar keiner ist.
Bonadei verzichtet im Spiel mit dem Ball und dort besonders im Positionsspiel auf zu viele eingeschliffene Schemata und zu stringente Abläufe. Die Mannschaft funktioniert stattdessen "lediglich" nach klaren Prinzipien, den Rest dürfen und sollen die Spielerinnen auf dem Platz selbst entscheiden. Der Coach hat damit bisher die reine Spielfreude und Kreativität seiner Mannschaft entfesselt. Weshalb auch die 4-3-3-Grundordnung im Prinzip nur ein eher belangloses Zahlenspiel ist: Die vielen Rochaden und Positionswechsel im Spiel mit dem Ball bringen eine lange Liste an verschiedenen Anordnungen hervor - und machen die Mannschaft für den Gegner deshalb auch so schwer greifbar.
Starker Fokus auf "kleine Duelle"
In Delphine Cascarino verfügt Frankreich über die wohl begabteste Dribblerin des gesamten Turniers. Die 28-Jährige soll deshalb immer wieder in isolierte Eins-gegen-Eins-Duelle geschickt werden, also mit den schnellen Verlagerungen oder Passspiel in eine Situation gebracht werden, in der sie mit der Ballannahme sofort und in höchstem Tempo auf ihre Gegenspielerin zulaufen kann.
Ihre herausragenden technischen Fähigkeiten und die Beidfüßigkeit machen Cascarino dann zu einer schwer zu stoppenden Waffe, die sowohl in der Torvorbereitung als auch im Torabschluss bei diesem Turnier bisher Maßstäbe setzt.
Das Problem aus deutscher Sicht: Nicht nur auf dem rechten Flügel mit Cascarino, sondern auch über die linke Seite mit Sandy Baltimore droht permanente Gefahr. Das Pärchen ist qualitativ noch höher einzuschätzen als die beiden bisher besten deutschen Spielerinnen, Jule Brand und Klara Bühl, auf vergleichbaren Positionen.
Und wenn sich Baltimore oder Cascarino dann auf dem Flügel durchgesetzt haben, vollstreckt im Sturmzentrum Torjägerin Marie-Antoinette Katoto. Mit 40 Toren aus 58 Länderspielen ist sie mit Abstand die gefährlichste Angreiferin der Mannschaft und tritt immer mehr aus dem übergroßen Schatten ihrer Vorgängerin Eugenie Le Sommer.
Riskantes Manöver von Coach Bonadei
Die 36-Jährige Le Sommer hatte Coach Bonadei im Vorfeld des Turniers ebenso aussortiert wie Wendie Renard, die fast anderthalb Jahrzehnte lang die Defensive der Mannschaft zusammengehalten hatte. Bonadei ist damit ein sehr großes Risiko eingegangen, Renard und Le Sommer sind Ikonen des französischen Frauen-Fußballs und waren beide spielfit.
Aber: Der Trainer hatte offenbar auch erkannt, wie dominant und damit in letzter Linie auch leistungshemmend das Duo auf den Rest der Mannschaft wirkte. Der Verzicht auf die beiden hat sich bisher als absolut richtige Entscheidung entpuppt, mit dem Auftaktsieg gegen Europameister England konnte man förmlich eine richtig schwere Last von den Schultern der Spielerinnen abfallen sehen. Seitdem wirkt die Mannschaft wie befreit.
Zarte Ansätze von Schwächen
Nun aber geht es in die heiße Phase des Turniers und erst jetzt wird sich zeigen, ob das Team ohne seine langjährigen Anführerinnen auch in der Lage ist, Widerstände auch unter größtem Druck zu überwinden. Gegen die Niederlande im letzten Gruppenspiel ist das gelungen, am Ende hieß es 5:2 für Frankreich trotz eines zwischenzeitlichen Rückstands.
Die erste Halbzeit der Partie lieferte aber einige zarte Ansätze, wie den Französinnen in deren Defensive zugesetzt werden könnte. Immer wieder versuchten es die Niederländerinnen mit langen diagonalen Bällen hinter die letzte Verteidigungslinie. Spielen konnten diese die Innenverteidigerinnen oder sogar die Sechser – weil Frankreich es verpasste, frühen Balldruck aufzubauen.
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Hier stößt das 4-3-3- auf dem Papier etwas an seine Grenzen, weil nur eine Angreiferin auf dem Platz nicht zwei Innenverteidigerinnen des Gegners anlaufen kann und der den kurzen Freiraum dann für gezielte lange Bälle nutzen könnte. Auch für die deutsche Mannschaft ein recht probates Mittel, ist Frankreich doch im Zentrum nicht nur mit Kapitänin Sakina Karchaoui am Boden kaum zu überwinden.
Bisher ist es nur den Niederländerinnen eine Halbzeit lang gelungen, richtig eklig und unangenehm gegen Frankreich zu spielen. Das wird die große Herausforderung für die deutsche Mannschaft, dies über 90 oder vielleicht sogar 120 Minuten zu schaffen. Nur so und mit genug Tempo in der Viererkette ist den Französinnen beizukommen. Kommen die erstmal ins Laufen, ist die "Équipe Tricolore" kaum noch zu stoppen.