Mehrere Länder haben vor kurzem wegen des Gaza-Krieges mit einem Boykott gedroht, sollte Israel im kommenden Jahr am Eurovision Song Contest in Wien teilnehmen. Musikwissenschaftler David-Emil Wickström spricht im Interview über die Brisanz der Lage, die Folgen für den ESC und über eine mögliche Lösung.

Ein Interview

Herr Professor Wickström, verschiedene Länder wie Spanien, Irland, Slowenien oder die Niederlande drohen aktuell mit Boykott des Eurovision Song Contests 2026, sollte Israel teilnehmen. Wie brisant schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

David-Emil Wickström: Wenn es nur bei diesen Ländern bleibt, ist es nicht so schlimm. Aber wenn es sich ausweitet, könnte es ein ziemlich leerer Wettbewerb werden.

Würden die genannten Länder ihre Drohung wahr machen?

Ich glaube schon. Das sind auch alles Länder, die immer kritisch gegenüber Israel waren, nicht wie in Deutschland, wo der Schutz Israels zur Staatsräson gehört. Die skandinavischen Länder würden es vermutlich durchziehen. Interessant ist die Haltung Irlands vor dem Hintergrund des eigenen langen Kampfes zwischen Katholiken und Protestanten oder die Haltung Spaniens gegenüber ihren eigenen Minderheiten, etwa im Baskenland.

Manche Kritiker ziehen Parallelen zum Ausschluss Russlands nach dem Angriff auf die Ukraine. Passt dieser Vergleich für Sie?

Gar nicht. Russland ist auch deshalb ausgeschlossen worden, weil auch die öffentlich-rechtlichen Sender im Land beeinflusst und die Pressefreiheit eingeschränkt worden sind. Das ist in Israel nicht wirklich passiert. Es gibt zwar Angriffe auf Journalisten in Gaza, das ist in der Tat schwierig, aber die öffentlich-rechtlichen Medien sind in Israel immer noch frei und nicht unter einer Zensur wie in Russland.

Und natürlich war der Krieg Russlands ein nicht provozierter Angriff auf ein Land, das nichts gemacht hat. Das hat schon 2014 begonnen. In Israel hingegen hatten wir den Terroranschlag der Hamas im eigenen Land. Man darf auch nicht vergessen: Es sind immer noch israelische Geiseln in den Fängen der Hamas. Natürlich geht Netanjahu weit über die Grenzen hinaus. Was er macht, ist auf keinen Fall zu unterstützen. Ich bin ganz klarer Gegner von Netanjahu und seiner Politik und es geht auch nicht darum, das Leid der Palästinenser zu schmälern. Aber Russland und Israel sind zwei völlig verschiedene Fälle.

Vietnam gewinnt von Russland organisierte ESC-Gegenveranstaltung

Mit Teilnehmern aus mehr als 20 Staaten und dem erklärten Ziel, mehr als eine Milliarde Fernsehzuschauer zu erreichen, hat Russland am Samstag eine Gegenveranstaltung zum Eurovision Song Contest (ESC) organisiert. Gewinner des Abends war der Sänger Duc Phuc aus Vietnam.

Diplomatische Entscheidung und mögliche Folgen

Im November sollen die EBU-Länder über die Teilnahme Israels abstimmen. Halten Sie das für eine gute Lösung?

Es ist auf jeden Fall eine diplomatische Lösung. Allerdings: Man gibt zwar die Entscheidung in die Hände der Mitgliedsländer, aber das bedeutet auch: Wenn sich die Mehrheit für einen Verbleib Israels entscheidet, könnten die Kritiker-Länder den ESC immer noch boykottieren. Das Problem wird dadurch also nicht unbedingt gelöst. Ich vermute, dass die skandinavischen Länder sowie Island und Finnland für einen Ausschluss stimmen, sicher auch Spanien, Großbritannien und Irland. Ich kann aber nicht einschätzen, wie Zentral- und Osteuropa oder auch Armenien, Georgien und Aserbaidschan abstimmen werden.

Im Endeffekt gibt es zwei Lösungen: Israel nimmt teil oder Israel nimmt nicht teil. Was würde das jeweils für den ESC bedeuten?

Wenn Länder wie Spanien den ESC boykottieren, führt das dazu, dass weniger Geld für die Veranstaltung da ist. Der Song Contest wird ja durch die teilnehmenden Rundfunkanstalten finanziert, die eine Teilnahmegebühr bezahlen, die sich wiederum aus ihrer Größe und Finanzkraft bestimmt. Der austragende Sender, diesmal also der ORF, trägt auch einen Anteil, hinzu kommt die Stadt, also Wien, und Geld aus anderen Quellen wie Sponsoring oder Ticketverkauf.

Aber der größte Teil kommt aus der Teilnahmegebühr, und wenn die großen Finanzierer aussteigen, wird es auf jeden Fall ein Wettbewerb mit weniger Geld. Das sind ja auch die Befürchtungen aus Österreich, weil es dann teurer wird. Der ESC ist in den letzten Jahren ohnehin immer kostspieliger geworden. Im Fall eines Boykotts wäre der Song Contest dann nur noch eine Veranstaltung mit einer Rumpfbesetzung. Der ORF müsste schauen, wie er damit klarkommt.

Risiken eines Israel-Ausschlusses

Falls Israel ausgeschlossen wird, würde das die Veranstaltung beschädigen?

Das ist eine gute Frage. In Nordwesteuropa würde man den Ausschluss als einen Akt gegen Unrecht wahrnehmen. In Osteuropa hätte ein Ausschluss aber sicher einen bitteren Beigeschmack, und das würde schon einen Einfluss auf den Wettbewerb haben. Vor allem würde es die Frage aufwerfen: Wo zieht man die Grenze? Schmeißt man dann im Jahr darauf Orban raus, weil Ungarn gegen die Rechte von queeren Menschen oder gegen die Pressefreiheit verstößt? Oder die Türkei? Was passiert, wenn die AfD in Deutschland regiert? Schmeißt man dann Deutschland raus? Natürlich führt Israel auch einen Krieg gegen unschuldige Zivilisten, aber in puncto Demokratie gibt es in Europa problematischere Länder als Israel.

Heißt das, man müsste die Regeln, wann ein Land ausgeschlossen wird, genauer definieren?

Die Regeln sind ziemlich klar, nur die Auslegung ist das Problem. Wie gesagt: Ich sehe nicht, dass die öffentlich-rechtlichen Medien in Israel eingeschränkt sind, gerade im Vergleich zu Belarus, Russland oder Ungarn. Das Problem geht eigentlich über den Song Contest hinaus. Die europäische Linke, vor allem in Skandinavien, war immer sehr pro-palästinensisch und gegen Israel. Das ist also jetzt nichts Neues, sondern geht zurück bis in die 1970er Jahre. Das ist jetzt ein weiterer Versuch, Israel zu isolieren – und dabei zu vergessen, dass die Nachbarländer genauso schlimm mit den Palästinensern umgehen.

ESC als Spielball der Politik

Der Song Contest, der ja eigentlich unpolitisch sein will und soll, ist also ein Spielball der Politik?

Das war er schon immer. Man kann nicht unpolitisch sein. Wenn ich auf die Bühne gehe und ein Liebeslied über gleichgeschlechtliche Liebe singe, ist es schon politisch. Oder wenn ich statt auf Englisch auf Norwegisch singe, kann das schon politisch sein. Die Geschichte des ESC ist voll von solchen Beispielen. In den 1950ern hat Österreich den Song Contest in Spanien wegen der Franco-Diktatur boykottiert. 1982 hat Spanien einen Tango nach Großbritannien geschickt, als England im Falklandkrieg gegen Argentinien war. Griechenland hat 1975 den ESC boykottiert, weil die Türkei teilgenommen hat. Der Wettbewerb war immer politisch.

Was wäre denn für Sie eine faire Lösung der aktuellen Situation?

Empfehlungen der Redaktion

Es gibt keine faire Lösung. Die vermutlich einfachste Lösung wäre, wenn Netanjahu beziehungsweise Israel auf eine Teilnahme verzichtet. Beide anderen Lösungen ziehen nur weitere Konflikte nach sich. Ich glaube aber nicht, dass Netanjahu das machen wird. Er ist nicht dafür bekannt, Demut zu zeigen.

Über den Gesprächspartner

  • Professor Dr. David Emil Wickström, 1978 im norwegischen Bergen geboren, ist Musikwissenschaftler und lehrt an der Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim Geschichte der Populären Musik. Sein besonderer Forschungsschwerpunkt liegt auf Populäre Musik aus Ukraine, Russland und Belarus sowie dem Eurovision Song Contest.