England verteidigt seinen Europameister-Titel im Elfmeterschießen. Dass man überhaupt soweit kam, hat man auf der Insel abermals Sarina Wiegman zu verdanken. Eine Analyse.

Eine Analyse
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Vor etwas weniger als vier Wochen sah die Welt in England noch anders aus. Am 5. Juli verloren die "Three Lionesses" ihr Auftaktspiel der EM 2025 in der Schweiz mit 1:2 gegen Frankreich. Unruhe und scharfe Kritik an der Personalpolitik von Sarina Wiegman waren die Folge.

Die Niederländerin hatte Millie Bright, Mary Earps und Fran Kirby mehr oder weniger aussortiert und ihnen vor dem Turnier mitgeteilt, dass ihre Rolle sich drastisch verändern würde. "Wir müssen uns steigern", forderte die Nationaltrainerin damals von ihrem Team. Wohl auch in dem Wissen, dass ihre Vorgehensweise ihr auf die Füße fallen könnte.

Doch Wiegman blieb ruhig. Wie immer. Als wüsste sie, dass sie am Ende ohnehin wieder auf dem Thron Europas sitzen würde. Und so kam es dann einige Wochen später auch. Am Sonntag krönten sich die Engländerinnen gegen Spanien – in einer Partie, die kaum hätte typischer sein können für diese englische Nationalelf.

England startet stark, Spanien kontert stärker

Wobei ihnen zu Beginn etwas gelang, was sie bei der Europameisterschaft meist haben vermissen lassen. Die ersten Minuten gehörten ihnen. Mit hohem und aggressivem Pressing zwangen sie Spanien zu Fehlern, setzten sie unter Druck, aus dem sie sich nicht mehr so souverän befreien konnten wie sonst.

England wirkte so scharfsinnig und zielstrebig wie zu keinem anderen Zeitpunkt in diesem Turnier. Auf den Punkt in Form und bereit, diesen Titel erneut zu gewinnen. Als wäre all die Kritik an ihrem zuvor recht biederem Fußball großer Unsinn gewesen. Doch dieser Zustand hielt nur wenige Minuten an. Nachdem England die erste gute Doppelchance des Spiels durch Alessia Russo und Lauren James vergab, lief die spanische Passmaschine warm.

Die Spanierinnen drückten die amtierenden Europameisterinnen nach und nach hinten rein, dominierten das Spiel vor allem über das spielstarke Zentrum rund um Aitana Bonmati, Alexia Putellas und einer fast schon unter dem Radar fliegenden Patricia Guijarro. In der ersten Halbzeit zeigte Spanien, warum sie der klare Favorit auf diesen Titel waren.

Kein anderes Team verfügt über eine derartige Passschärfe und -genauigkeit. Niemand hat derart viele Spielerinnen im Kader, die technisch dieses Niveau haben. Selbst die aggressivsten Pressingmomente der Engländerinnen wurden oftmals mit nur zwei, drei schnellen Pässen ausgehebelt. Auch weil dieses Team davon profitiert, dass es zu großen Teilen aus Spielerinnen vom FC Barcelona besteht.

Als würde dort kein Nationalteam, sondern ein Klub spielen, der von tagtäglicher Trainingsarbeit profitiert. Vielleicht ist das auch der große Unterschied zu einem Team wie England: Die größte Aufgabe von Trainerin Montserrat Tome ist es, die Spanierinnen bei Laune zu halten. Den Fußball liefern sie beinahe auf Knopfdruck.

England stellt um und findet besseren Zugriff auf die Partie

Spanien gelang es in den ersten 45 Minuten, Kontrolle über das Spiel zu gewinnen und mit einem herausragenden Spielzug über den rechten Halbraum die Führung zu erzielen. England wurde eingeschnürt, konnte sich über weite Strecken nicht befreien.

Doch die Spanierinnen haben im Turnierverlauf schon häufiger das Problem offenbart, dass sie die Partie nicht zumachen können. So kontrolliert der Auftritt auch war, er war selten richtig dominant. Die ganz großen Torchancen fehlten. Und wenn die Möglichkeit da war, wurde sie nicht genutzt. Statt mit Rückenwind auf die Entscheidung zu gehen, ließ man England so wieder ins Spiel.

Wieder mal fand Wiegman den Schlüssel, um ihrem Team ein Comeback zu ermöglichen. Denn sie stellte den Spielaufbau etwas um. Lucy Bronze übernahm eine zentralere Rolle, rückte oft so weit ein, dass England in einer 3-2-Struktur aufbauen konnte. Damit schaffte man es nicht nur, mit Keira Walsh eine der wichtigsten Aufbauspielerinnen zu entlasten, sondern knackte auch das spanische Pressing deutlich häufiger.

Plötzlich erarbeiteten sich die Engländerinnen mehr Zeit am Ball, mehr Entlastung und theoretisch auch mehr offensive Möglichkeiten – nur wirklich nutzen konnten sie das nicht. Bis auf den einen Moment, in dem Alessia Russo den wichtigen Ausgleich erzielte.

Auch wenn England nie wirklich nah dran war, den zweiten Treffer zu erzielen, gelang es ihnen mit ihrer nun aggressiveren Spielweise und dem leicht verbesserten Spiel in Ballbesitz, den Spanierinnen den Rhythmus zu nehmen.

Spaniens Auswechslungen fruchten nicht

Aus einer Partie, die durch Spaniens Eleganz und Brillanz bestimmt wurde, wurde eine, in der Kampf, Laufbereitschaft und Aggressivität vorrangig wichtig waren. Vorteil England.

Doch Spanien schien sich den Zugriff auf die Partie auch selbst zu rauben. Die frühe Auswechslung von Putellas verwunderte durchaus. Zwar hatte die einstige Weltfußballerin offensiv nicht sehr viele Aktionen, aber sie war eine wichtige Station in der Ballzirkulation und verrichtete auch defensiv wichtige Arbeit.

Bei Spanien schien mit den Wechseln von Tome eher mehr Unruhe hereinzukommen als, dass sie das Spiel nochmal auf ihre Seite hätten ziehen können. Ein Gegenmittel für die Anpassungen von Wiegman fand Spanien jedenfalls nicht.

England muss sich Sorgen machen: Ist der Zenit schon überschritten?

Wahr ist aber auch, dass sich diese Geschichte nur so schreiben lässt, weil England das Elfmeterschießen gewann. Viele der umstrittenen Entscheidungen, die Wiegman traf, hingen daran. Vermutlich wäre das Fazit ein anderes, hätte ihr Team diesen Titel nicht gewonnen – zumindest ein leicht anderes.

Prinz William gratuliert Wiegman. © Steinsiek.ch/IMAGO/Grant Hubbs

Denn fußballerisch stießen die Engländerinnen bei dieser EM an Grenzen, die man von ihnen so nicht gewohnt ist. Von der Souveränität, mit der sie den Titel 2022 gewannen und ein Jahr später ins Finale der WM einzogen, war diesmal wenig zu sehen. Was schon deshalb verwundert, weil der Kader nicht alt ist. Viele Spielerinnen befinden sich kurz vor oder auf ihrem Zenit.

Dennoch wirkt es so, als wäre England als Team über dem Zenit. Dass sie diesen Titel trotzdem gewinnen konnten, spricht für die enorme individuelle Qualität, die sie haben. Es spricht auch für den Teamgeist und die Bereitschaft, Spiele dann eben über den Kampf zu entscheiden.

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Letztendlich bleibt aber die Frage, ob Wiegman diesem Team nochmal einen neuen Anstoß für die kommende WM geben kann. Oder ob man diesen weiteren Höhepunkt bei der EM nicht doch bereits im Fallen mitgenommen hat.

Aber auch das ist ja das Schöne am Fußball: Was vor vier Wochen oder gar zwei Tagen war, ist nicht mehr interessant, wenn der Erfolg einem derart recht gibt. Und wenn jemandem ein weiterer Neuaufbau zuzutrauen ist, dann wohl der erfolgreichsten Nationaltrainerin, die es je gab.